Horst Seehofer lässt Gutachten anfertigen: Bayern bereitet Klage wegen Flüchtlingspolitik vor
Der Ex-Verfassungsrichter Udo Di Fabio soll ein Gutachten erstellen, ob der Bund mit Grenzöffnungen gegen seine Pflichten verstößt.
Horst Seehofer ist etwas leiser geworden, doch hinter den Kulissen schafft die Bayerische Staatsregierung Fakten: Der frühere Verfassungsrichter und Bonner Rechtsprofessor Udo Di Fabio hat offiziell den Auftrag erhalten, eine mögliche Klage gegen den Bund wegen der anhaltenden Belastungen durch den Flüchtlingsstrom zu prüfen. Ein Gutachten soll er erstellen, „ergebnisoffen“, betont Di Fabio gegenüber dem Tagesspiegel. Der übliche Weg ist allerdings, dass solche Gutachten später in Klageschriften münden und derjenige, der sie anfertigt, später auch vor Gericht als Prozessvertreter auftreten soll.
Es war also keine leere Drohung, als Bayerns Ministerpräsident nach einer Sondersitzung seines Kabinetts von allerlei „Maßnahmen“ sprach, die der Freistaat ergreifen könne, wenn der Bund passen muss. Sogar von „Notwehr“ wurde gesprochen, eine Vokabel, die eher ins Strafrecht gehört. Zu Details einer Klage will sich Seehofer seitdem nicht äußern. Wie auch, wo Di Fabio sie erst ausarbeiten soll, der sich zu dem Thema ebenfalls Schweigen verordnet hat.
Einen Anhaltspunkt gibt es indes. Der Bund gefährde die „eigenstaatliche Handlungsfähigkeit der Länder“, indem er den Zuzug nicht wirksam begrenze, ließ sich die Staatsregierung vernehmen. Damit steuert der Konflikt auf einen Bund-Länder-Streit hin, den das Grundgesetz höflich als „Meinungsverschiedenheit“ über Rechte und Pflichten des Bundes und der Länder bezeichnet. Das Verlangen nach eigenstaatlicher Handlungsfähigkeit wiederum verweist auf den Verfassungssatz in Artikel 30, wonach die Ausübung staatlicher Befugnisse und die Erfüllung staatlicher Aufgaben prinzipiell Sache der Länder sein soll. Eine zentrale Vorschrift, die die Eigenstaatlichkeit der Länder im föderalen System markiert.
Die schleichende Loslösung vom Dublin-System
Seehofer und sein ins Auge gefasster Klagevertreter Di Fabio könnten nun eine Analogie herstellen. So, wie den Ländern nach dieser Vorschrift Raum bleiben muss, hinreichend bedeutsame Aufgabenfelder selbst zu regeln, so dürfe auch ihr tatsächliches Handeln vom Bund nicht allzu weit beschränkt werden. Denn tatsächlich ist es Aufgabe des Bundes, den Schutz der Grenzen sicherzustellen, eine Pflicht, die ihn auch im Binnenraum der Schengen-Staaten trifft. Er hat dafür zu sorgen, dass Einwanderung kontrolliert erfolgt. Die schleichende Loslösung vom Dublin-System, wonach Flüchtlinge in den Staat ihrer Einreise in die EU zurücküberstellt werden sollen, könnte als Verstoß dagegen gewertet werden.
Prozessual wäre ein solches Vorgehen zumindest halbwegs im Grundgesetz verankert, da im Bund-Länder-Streit nur echte, aus Verfassungsrecht abgeleitete Ansprüche der Länder geltend gemacht werden können. Die Bayerische Staatsregierung wäre ein zulässiger Kläger, die Bundesregierung – auch wenn die CSU an ihr beteiligt ist – der richtige Gegner. Es ist anerkannt, dass Rechtsansprüche der Länder etwa auf Geldleistungen oder andere Handlungen des Bundes bestehen können. Das Bundesverfassungsgericht hat zudem häufiger Folgerungen aus dem „Wesen“ des Bundesstaats abgeleitet. Ein entwicklungsfähiger Begriff, an dem die Kläger andocken und ein restriktiveres Vorgehen gegen Flüchtlinge an den Grenzen einfordern könnten.
Juristisches Neuland
Zwar wurde viel über den Vorstoß gespöttelt, doch ist die föderale Diskrepanz offenbar: Länder und Kommunen haben den Zustrom zu verwalten, während der Bund Mittel in den Händen hält, ihn zu kanalisieren. Der Jurist Di Fabio ist keiner, der aus der faktischen Durchlässigkeit grüner Grenzen die Abkehr von einer wirksamen Einwanderungskontrolle folgern würde; im Gegenteil, mehrfach hat er betont, dass ein Staat nur mit Grenzen ein Staat sein kann, innerhalb derer diejenigen Bürger, die sich berechtigt in ihm aufhalten, geschützt werden können. Schutz für Flüchtlinge setzt danach Schutz der Bürger vor unkontrollierter Einwanderung voraus. Auch daraus wird der einfallsreiche Ex-Richter, der auch mit politischen Büchern hervortritt, Argumente zu stricken wissen.
Es wäre juristisches Neuland, das die Bayern betreten würden. Müssten Di Fabios frühere Kollegen in Karlsruhe über den Fall entscheiden, würden sie neben dem rechtlichen Konstrukt die tatsächlichen Verhältnisse in den Blick nehmen. Werden dem Freistaat wirklich Fesseln angelegt? Hätte der Bund überhaupt die Macht, sie zu lösen? Um dies gut begründen zu können, wäre die Entwicklung wohl weiter zu beobachten. Vom Gutachten zur Klage ist es daher noch ein längerer Weg. Aber die ersten Schritte sind getan.