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Hier soll ein Drittel der russischen Gasvorräte lagern. Das Bovanenkovo Gasfeld im autonomen Yamalo-Nenets-Gebiet.
© picture alliance / dpa

Energiekrise: Barfuß im Scherbenhaufen

Seit dem russischen Einmarschs in die Ukraine ist die deutsche Gasversorgung nicht mehr gesichert. Was taugt Habecks Notfallplan? Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Jakob Schlandt

Nun sind wir also offiziell „vorgewarnt“: Die Bundesregierung hat die erste Alarmstufe des Notfallplans für die Gasversorgung aktiviert. Weil Wladimir Putin angekündigt hat, nur noch Rubel für Gaslieferungen entgegenzunehmen, obwohl die Verträge auf Euro und Dollar lauten.

Die „Vorwarnstufe“ bedeutet erst einmal nicht viel: Der Markt wird genauer beobachtet, ein Krisenstab, der längst informell berufen war, tritt nun jeden Tag zusammen. Aber es ist ein Signal an Wirtschaft und Bevölkerung, erstens freiwillig so viel Gas wie möglich zu sparen und sich zweitens auf eine weitere Eskalation einzustellen.

Mit welcher Wahrscheinlichkeit droht eine schwere Gaskrise überhaupt? Das ist im Moment nicht nur die Millionen-Dollar-, sondern die Dutzende-Milliarden-Euro-Frage. Niemand, weder in der Energiewirtschaft noch in der Bundesregierung, kann sie beantworten. Es bleibt unklar, was mit dem Rubel-Zwang überhaupt gemeint ist. Reicht es womöglich, dass die Banken das Geld auf Wunsch von Gazprom umtauschen, was kein größeres Problem wäre?

Gibt es lange Übergangsfristen oder, die schwächste Version, sind gar nur Neuverträge betroffen? Am heutigen Donnerstag, so verspricht Russland, sollen wir mehr erfahren. Aber wer weiß schon, ob das stimmt. Oder ob die ganze Angelegenheit nur eine weitere Finte ist, die uns verunsichern soll.

Überfällige Vorwarnstufe

Dennoch ist es überfällig, die „Vorwarnstufe“ zu aktivieren. Es wäre am Tag des russischen Einmarschs in die Ukraine, vor fünf Wochen, bereits richtig gewesen. Seitdem ist die Gasversorgung nicht mehr gesichert, sondern hängt an der Willkür eines Despoten, der einen verbrecherischen Krieg eingeleitet hat. Natürlich würde Russland ein faktisches Gas-Embargo wirtschaftlich schwer schaden – aber geht Putin rational vor? Das militärische Fiasko nach dem Einmarsch in die Ukraine spricht dagegen.

Wir laufen nun barfuß über den großen Scherbenhaufen, den die deutsche Energiepolitik in den Merkel-Jahren hinterlassen hat. 2006 lag die Gas-Abhängigkeit von Russland bei 36 Prozent, sie stieg – vor der Gaspreiskrise und Krieg – auf 55 Prozent. Und damit weit in den Bereich hinein, in dem sich ein russischer Totalausfall nicht mehr ohne schwere Schäden abfedern lässt – spätestens im Winter, wenn mit Gas nicht nur die Industrie versorgt, sondern auch geheizt werden muss. Wir haben uns sehenden Auges erpressbar gemacht.

Lamentieren nützt wenig

Der Ampel-Regierung nützt lamentieren wenig. Und damit hält sie sich zum Glück auch nicht nennenswert auf, was im Falle der erheblich mitschuldigen SPD auch eine Frechheit wäre. Kanzler Olaf Scholz und Wirtschaftsminister Rober Habeck tun, was in dieser Lage möglich und nötig ist.

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Alle verfügbaren Gasquellen werden in Europa zusammengekratzt, Pläne sind in Arbeit, wie bei einer physischen Unterversorgung der dann aller Voraussicht nach nicht mehr funktionsfähige Gasmarkt quasi vom Staat übernommen und die Restmengen verteilt werden. Fürs Heizen wird es in jedem Fall reichen, aber die Industrie wird ganze Werke stilllegen müssen.

Wir sind, gestehen wir es uns ein, in diesem Moment Putins Willkür wirtschaftlich ausgeliefert. Die „Vorwarnstufe“ entspricht zwar den physischen Realitäten. Noch fließt ja Gas. Was die Warscheinlichkeit und die Auswirkungen einer Eskalation betrifft, sind wir allerdings längst bei Alarmstufe Rot.

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