Kritik am Aufbau Ost: Auch Wessis haben Gefühle!
30 Jahre nach 1989 stehen westdeutsche „Aufbauhelfer“ als Ausbeuter da. Sie sollen Auslöser für die ostdeutsche Wut sein. Das ist unfair. Ein Gastbeitrag.
Susanne Krause-Hinrichs war im Landesdienst Brandenburgs tätig und leitet seit Oktober 2013 als Geschäftsführerin die F. C. Flick Stiftung in Potsdam
Es ist ungefähr drei Jahre her, da hörte ich es zum ersten Mal bei einem Abendessen unter Freunden, vorgetragen von einer Frau aus Sachsen, die bei der Wende ein Teenager war: Es seien doch der Westen und die Wessis dafür verantwortlich, dass ihre Eltern nach der Wende benachteiligt worden wären und auch, dass sie momentan beruflich nicht weiterkomme.
Man fühle sich als Ostler wie ein Mensch zweiter Klasse und könne daher nach wie vor nicht in dieser Gesellschaft wirklich auf Augenhöhe mithalten. Dieses Selbstgefühl sei ein klares Produkt der „Überwältigungsstrategie“ durch Treuhand und Westbeamte.
Es war nicht als persönlicher Vorwurf gemeint, und sie wusste auch nicht, dass ich – aus dem Westen kommend – fast durchgängig seit 1991 im brandenburgischen Landesdienst tätig war. Ich aber war wie vor den Kopf geschlagen. Bin ich aus ostdeutscher Sicht keine Aufbauhelferin mehr, sondern Teil eines perfiden Systems?
Solche Ansichten ploppen jetzt zum Mauerfall-Jubiläum fast täglich auf. Und ich frage mich, ist diese emanzipatorische Abgrenzung auch eine versuchte Ausgrenzung für mich und meinesgleichen?
Das Gesagte ist manchmal schwer auszuhalten
Offenbar bin ich plötzlich nicht mehr Brandenburgerin mit schwäbischen Wurzeln, sondern wieder „Wessi“. Ich sehe mich mit Narrativen konfrontiert, die manchmal schwer auszuhalten sind. In Diskussionen, Zeitungsartikeln und Büchern werden Menschen wie ich zu einer Gruppe, die gekommen war, um die DDR abzuwickeln. Eine Zuschreibung, die mir nicht nur von ost-, sondern auch von westdeutscher Seite begegnet.
Ein Steuerberater am Bodensee erklärte mir, es seien damals nur die „Versager“ und „Nieten“ aus dem öffentlichen Dienst in den Osten gegangen, die im Westen nichts geworden sind. „Dritte Garde“, schrieb der mecklenburgische SPD-Politiker Mathias Brodkorb in der „Neuen Zürcher Zeitung“. Das wird alles so dahingesagt, als träfe man damit nicht auch Menschen mit Gefühlen.
In meinem Fall war 1990 endlich mein Jurastudium in Bonn vorbei, und ich sehnte mich nach etwas anderem als der Paragraphenmühle. Ich wollte nach Perugia – doch dann kam es anders.
Der Eiserne Vorhang fiel, und ein neues Land tauchte auf, das mir fremd war. In Brandenburg hatte die neu gegründete SPD das Glück, dass sie den Kirchenjuristen Manfred Stolpe für das Amt des Ministerpräsidenten gewinnen konnte. Sein Ruf drang bis nach Bonn und auch, dass man Juristen im neuen Bundesland bräuchte.
Als Wessi empfand ich die DDR als Black Box
Bis Perugia waren es noch vier Monate hin. Also fuhr ich mit Aussicht auf ein Praktikum im März 1991 nach Potsdam. In der Staatskanzlei empfing mich ein freundlicher Referatsleiter, eigentlich Verwaltungschef des Landkreises Soltau-Fallingbostel. Er könne meinen Aufgabenbereich nicht genau umreißen, aber es gäbe so viel zu tun, dass mir schon nicht langweilig werden würde. Er hatte nicht gelogen. Und ich blieb.
Ein riesiges Paket an landesrechtlichen Regelungen galt es zu formulieren und landesplanerische Grundsatzentscheidungen zu fällen. Fast jeder Bürgermeister träumte von Gewerbeansiedlungen, Freizeitparks und einer eigenen Kläranlage. Die Arbeitslosigkeit lag weit über 20 Prozent, und jeden Tag gab es neue Nachrichten über Betriebe, die geschlossen oder verkauft wurden.
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Das Stasi-Thema und der noch unklare Umgang mit ehemaligen informellen Mitarbeitern in der öffentlichen Verwaltung hingen wie ein Damoklesschwert über vielen Menschen und produzierten ein Klima der Verunsicherung: Jederzeit konnten Enthüllungen das gesellschaftliche wie berufliche „Aus“ im öffentlichen Dienst oder als Politiker bedeuten.
Als Wessi empfand ich das alles als große „Black Box“. Die Erzählungen meiner neuen Kollegen und Bekannten gaben kein einheitliches Bild vom Leben in der DDR. Ich begriff aber, dass es Nischen gegeben hatte, in denen man Freiheit leben konnte. Die Bohème-Kommune auf dem Land, aber auch denkmalschutz- und umweltpolitische Vereine hatten solche Möglichkeiten eröffnet.
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Und der größte Schutzraum, begriff ich damals, war die Kirche gewesen, die trotz starker Repressionen und Anfeindungen durch den SED-Staat Stand gehalten, sich selbst als eigenständige Institution behauptet hatte.
Aus meinem Praktikum war 1991 ein Job geworden. Ich lernte schnell, nicht nur „Steige hoch Du roter Adler“ zu jeder Tages- und Nachtzeit zu singen, sondern auch, die Besonderheiten der Regionen kennen, genau wie die ihrer Bewohner und Verantwortungsträger. Wie mir ging es den allermeisten. Eine bunte Sammlung von Enthusiasten war mit mir nach Brandenburg gekommen.
Einige hatten ihre Wurzeln im Osten, andere faszinierte die Vorstellung, dass sie an etwas Einmaligem mitwirken konnten. Vielleicht gab der eine oder andere Karriereknick oder auch eine zerbrochene Beziehung mit den Ausschlag für den Aufbruch in den Osten, das Tragende allein war es sicher nicht. Einige gingen irgendwann zurück, diejenigen, die blieben, begannen ein neues Leben.
Die fehlende West-Sensibilität ist mir im Nachhinein peinlich
Ja, es gab sie auch, die „Westüberheblichkeit“. Sie äußerte sich in Begriffen wie „Anpassungsfortbildung“, eine Art Schnellverwaltungskurs, den die Kollegen aus dem Osten mitmachen mussten. Sicher ist einigen von ihnen auch wie eine Art Siegerjustiz vorgekommen, dass Menschen mit einer anderen Sozialisation und Herkunft nun ihre Vergangenheit beurteilen und über ihre Zukunft entscheiden durften.
Auch spielte eine oder andere Staatssekretär oder Abteilungsleiter seine Kompetenz und Macht in arroganter Art und Weise aus. Die fehlende Sensibilität beschämt mich im Nachhinein. Damals fiel es mir nicht auf. Uns einte nach meiner Empfindung eine große Solidarität. Letztendlich saßen wir auf einmal alle in einem Boot.
Die meisten Herausforderungen konnten wir nur gemeinsam und auch nur mit gegenseitigem Respekt bewältigen. Die Ausweisungen von Schutzgebieten mit europäischem Rang oder der Deichbau funktionierten nur mit dem Sachverstand der Fachleute aus dem Osten sowie der verwaltungsrechtlichen Fachkenntnis der Juristen aus dem Westen. Die Zielstellung war eine gemeinsame.
Als Manfred Stolpe wegen seiner Kontakte als Kirchenjurist zur Stasi unter Druck geriet, hielten wir zu ihm. Bei vielen meiner westdeutschen Freunde stieß das auf Unverständnis, und die eine oder andere Freundschaft zerbrach nach erbitterten Diskussionen. Dafür gewann ich neue Freunde – und die kamen aus dem Osten. Meine Lebenswirklichkeit hatte sich inzwischen auch weit von der damaligen westdeutschen Realität entfernt.
Die Vorurteile gegenüber dem „roten und stasiverseuchten Osten“ blieben stark. Mir war das egal, hatte ich doch in Brandenburg eine neue Heimat gefunden und sogar einen Eid auf die Verfassung geschworen. Die Frage, wer ursprünglich aus dem Osten und wer aus dem Westen kam, ist dann für viele Jahre in den Hintergrund gerückt. Sie war anscheinend unwichtig geworden. Aber eben nur anscheinend.
Susanne Krause-Hinrichs