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Was waren das für Zeiten, als man noch in die Philharmonie gehen konnte. (Archivbild)
© dpa/Rainer Jensen

Erleichterungen für Corona-Geimpfte?: „Auch Urlaubsreisen und Kulturveranstaltungen sind Grundrechte“

Lockerungen für Geimpfte seien dringend geboten, meint Ethikprofessor Markus Gabriel. Möglicher Sozialneid dürfe kein ethisches Argument sein. Ein Interview.

Markus Gabriel ist Professor für Erkenntnistheorie, Philosophie der Neuzeit und Gegenwart sowie Direktor des „Center for Science and Thought“ an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn, außerdem Distinguished Lecturer an der New School for Social Research in New York.

Herr Gabriel, sind Vorrechte für Geimpfte aus moralisch-ethischer Sicht vertretbar?
Ja. Es geht dabei nicht um Privilegien, sondern darum, Einschränkungen von Grundrechten aufzuheben, die die Verfassung den Menschen zusichert. Deshalb darf keine Einschränkung länger bestehen als unbedingt nötig. Es möglichst vielen Menschen so schnell wie möglich zu ermöglichen, ihre Grundrechte voll auszuleben, ist aus meiner Sicht alternativlos. Durch die Impfung entfällt die pauschale Möglichkeit, alles zu schließen.

Das einzige, was dagegen spricht, ist, dass Geimpfte weiter ansteckend sein könnten. Wenn man aber ausschließlich Geimpften Zutritt gewährt, sie also unter sich bleiben, entfällt das Argument. Damit es sogar geboten, das zu ermöglichen und daran jetzt schon zu arbeiten.

Wieso wäre es geboten?
Die bald Geimpften sind vor allem Menschen, die eventuell nur noch wenige Jahre leben. Jeder Monat, den man ihnen Zugang zu Kultur, Restaurants und Lebensqualität verwehrt, ist einer zu viel. Es geht darum, ob 80-Jährige, die in der Isolation psychisch leiden, ihre Enkel endlich sehen und berühren dürfen. Deshalb sind Lockerungen nicht bloß moralische Optionen, sondern dringend geboten.

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Ist es nicht unfair, einigen Rechte zu gewähren, die anderen verwehrt bleiben?
In einer Gesellschaft gibt es immer Ungleichheiten. Schon jetzt haben Geimpfte Vorteile: Die Impfung allein, der Schutz vor einer Infektion, ist ja ein Vorteil. Für die Impfreihenfolge gibt es gute, solidarische Gründe, aber auch sie produziert Ungleichheit: Ältere Gesunde werden eher geimpft als schwerkranke Kinder.

Sind Restaurant- oder Konzertbesuche Grundrechte?
Ja, Urlaubsreisen und Kulturveranstaltungen gehören zu den Grundrechten eines freiheitlich-demokratischen Rechtsstaates. Unsere Grundrechte sind seit einem Jahr aus guten Gründen des Gesundheitsschutzes teils stark eingeschränkt, umso mehr Gründe wegfallen, umso mehr muss erlaubt sein. In einer liberalen Demokratie ist es das Ziel, dass alle möglichst viel tun dürfen und der Staat möglichst wenig eingreift.

Rund drei Prozent der Deutschen sind bisher geimpft. Kommt die Debatte zu früh?
Wenn die Szenarien jetzt nicht durch ethisches Argumentieren geprüft werden können, wann denn dann? Ethische Debatten kommen niemals zu früh. Ich verstehe da auch den Ethikrat nicht, der die Debatte gewissermaßen aufgeschoben hat. Für tatsächliche Lockerungen sind aber noch zu wenige geimpft. Aber der richtige Zeitpunkt liegt wohl nur ein, zwei Monate in der Zukunft.

Birgt das nicht die Gefahr einer Spaltung der Gesellschaft, etwa durch Impfneid?
Anders als der Ethikrat bin ich der Auffassung, dass man das nicht berücksichtigen darf. Ethisch ist das Argument ungültig – Neid ist eine moralisch verwerfliche Emotion, die keine Handlung steuern sollte. Eine Empfindung wie Neid darf meiner Ansicht nach aus ethischer Perspektive nicht in Rechnung gestellt werden. Taktische Überlegungen anzustellen, also zu fragen, ob Neid soziale Unruhen kreieren könnte, ist Aufgabe der Politik, nicht der Ethik.

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