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Ein Arbeiter hält eine Ampulle des Pfizer-BioNTech COVID-19-Impfstoffs in der Hand
© Graeme Robertson/Pool PA/dpa

Pro und Contra: Mehr Rechte für Corona-Geimpfte?: Auch eine Impfpflicht wäre vorstellbar!

Sobald klar ist, dass die Corona-Impfung das Anstecken anderer ausschließt, spricht aus ethisch-moralischer Sicht nichts gegen mehr Freiheiten für die Geimpften.

- Markus Gabriel ist Professor für Erkenntnistheorie, Philosophie der Neuzeit und Gegenwart sowie Direktor des „Center for Science and Thought“ an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn, außerdem Distinguished Lecturer an der New School for Social Research in New York. Sein Text wurde protokolliert von Nina Breher.

Es ist legitim, Geimpfte anders zu behandeln als Nicht-Geimpfte. Es ist sogar geboten. Denn ihr Recht auf Freiheiten sollte möglichst bald wieder erweitert werden, um für möglichst viele möglichst bald alle Grundrechte wieder hochzufahren. Schon jetzt gewähren wir Geimpften Freiheiten, die wir anderen verwehren: Um in bestimmte Teile von Brasilien zu reisen, benötigt man etwa eine Gelbfieber-Impfung. Noch niemand ist auf die Idee gekommen, dagegen zu protestieren. Wieso sollte es also jetzt ein Problem darstellen, Geimpften mehr zu erlauben als Nicht-Geimpften?

(Hier geht's zum Contra von Rechtsprofessor Volker Boehme-Neßler)

Wenn Geimpfte nachweislich keine weiteren Menschen mehr anstecken können, wäre es vertretbar, ihnen mehr Freiheiten zu gewähren. Dann wäre aus meiner Sicht sogar eine Impfpflicht geboten – natürlich mit den notwendigen Ausnahmen für Allergiker und so weiter. Auch über Kinder unter acht Jahren müsste gesondert entschieden werden.

Abgesehen davon spricht aus moralisch-ethischer Sicht nichts dagegen. Impfungen haben den Zweck, den Fortbestand menschlicher Gesellschaft zu gewährleisten. Es gehört zu Public-Health-Maßnahmen nun einmal auch, dass Geimpfte in vielen Hinsichten Vorteile haben. Und die Nebenwirkungen der Coronavirus-Impfungen sind nach aktuellem Wissensstand gering. Wenn also keine langwierigen Schäden durch eine Impfung zu befürchten sind, überwiegt der Nutzen deutlich. Insofern würde nichts dagegensprechen, Geimpften Freiheiten zu gewähren, die anderen verwehrt bleiben – vorausgesetzt, sie können das Virus nicht weitergeben.

Das ist noch nicht abschließend geklärt. Nach jetzigem Wissensstand lässt sich nicht ausschließen, dass gegen das Coronavirus Geimpfte noch infektiös sein können, obwohl sie selbst nicht mehr erkranken können: Laut dem in Deutschland für Impfstoffe zuständigen Paul-Ehrlich-Institut kann man sich auch nach einer Impfung noch anstecken – auch wenn eine Impfung die Aufnahme und Weitergabe von Viren deutlich reduziere und die Wahrscheinlichkeit gering sei, dass Geimpfte andere anstecken können.

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Wenn die Impfung Ansteckungen nicht verhindern kann, wäre es natürlich kontraproduktiv, Geimpften Privilegien zu geben. Im Gegenteil: Sie von den Corona-Regeln auszunehmen würde dann dazu führen, dass sich das Virus noch schneller verbreitet. Dann würden Privilegien für Geimpfte dem Ziel der Impfung, die Pandemie zu beenden, zuwiderlaufen.

Wenn die Impfung aber Ansteckungen verhindert und der Impfstoff weitgehend sicher ist, wäre es aus moralisch-ethischer Sicht unproblematisch, geimpfte und nicht geimpfte Menschen in unterschiedliche Kategorien einzuteilen. Die Gesellschaft behandelt nicht alle Menschen gleich. Das muss sie auch nicht. Kinder zum Beispiel dürfen in Deutschland nicht wählen. Außerdem unterliegen sie der Schulpflicht. Die Gesellschaft zwingt sie, zur Schule zu gehen. Sie schränkt die Freiheit von Kindern massiv ein, weil sie denkt, ihnen damit Gutes zu tun.

Die aktuelle Notsituation würde es erlauben, Menschen in Geimpfte und Nicht-Geimpfte einzuteilen

Dass wir Menschen nicht in Kategorien einteilen dürfen, um sie unterschiedlich zu behandeln, ist kein gutes Argument, weil wir es bereits überall tun. Ein weiteres Beispiel: Sollte es je eine HIV-Impfung geben, wäre es legitim, dass Menschen einander vor dem ersten sexuellen Kontakt fragen, ob der oder die andere Person geimpft ist.

Masern, Mumps, Corona? Ein Impfnachweis sollte den Geimpften Vorteile bringen - und so den Kampf gegen das Virus stärken, findet Markus Gabriel.
Masern, Mumps, Corona? Ein Impfnachweis sollte den Geimpften Vorteile bringen - und so den Kampf gegen das Virus stärken, findet Markus Gabriel.
© Lukas Schulze/dpa

Die aktuelle Notsituation würde es erlauben, Menschen in Geimpfte und Nicht-Geimpfte einzuteilen. Zwar wäre es hart, Menschen den Gang ins Restaurant oder ein unbeschwertes Sozialleben zu verbieten, weil sie sich nicht gegen das Coronavirus impfen lassen. Allerdings muss man das übergeordnete Problem im Blick haben: Wird die Pandemie nicht eingedämmt, kann niemand seinem normalen Alltag nachgehen.

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Auch jetzt gibt es deshalb ja bereits Maßnahmen, die tief in die Grundrechte eingreifen. Ein Impfnachweis wäre eine weitere. Wenn er wissenschaftlich nachweisbar entscheidend dazu beitragen kann, die Pandemie zu beenden, ist er gerechtfertigt. Das Ziel der Maßnahmen ist es, alle Maßnahmen zu beenden.

Die Politik täte gut daran, deutlich darauf hinzuweisen. Im Radio sollte man täglich hören: „Der Sinn aller getroffenen Maßnahmen ist ihre Aufhebung.“ Viele Menschen würden so mehr Vertrauen in die Regierung gewinnen. Denn viele, die sich in Verschwörungserzählungen verlieren, tun das auch, weil sie kein Vertrauen haben, dass die Maßnahmen jemals aufhören werden. Dass einigen Menschen dieses Vertrauen fehlt, ist nicht ihre Schuld. Auch nicht die der Politik, denn sie ist menschlich wie wir.

Die Politik berät die Bevölkerung nur mangelhaft

Es ist ein systemischer Fehler, dass wir derzeit nicht hinreichend klar miteinander kommunizieren und sich die Gesellschaft stark polarisiert. Da wäre es wichtig, dass die Politik ehrlich Fehler einräumt und sich ganz menschlich zeigt, damit nicht der falsche Eindruck entsteht, es würde von oben herab entschieden.

Derzeit berät die Politik die Bevölkerung mangelhaft. Würde man täglich im Radio hören, dass die schlimmsten Nebenwirkungen der mRNA-Impfstoffe weniger schlimm sind als der schwächste Covid-19-Verlauf, würde die Impfbereitschaft sicher um einige Prozent zunehmen. Politiker müssten klar vermitteln, was die schlimmsten Nebenwirkungen des Impfstoffs sind.

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Denn hinter dem Wort „Nebenwirkungen“ verbirgt sich kein Horror, sondern eher so etwas wie leichtes Fieber oder Schmerzen im Arm. Das würden viele auf sich nehmen, die sich im Moment gegen Impfungen wehren, weil sie eben nicht genügend informiert wurden. Darüber muss gesprochen werden, weil moralisch-ethische Fragen von der Schwere der Nebenwirkungen abhängen

Vorerst sind weder ein Immunitätsausweis noch eine Impfpflicht politisch durchsetzbar – obwohl beides sinnvoll und aus moralisch-ethischer Sicht vertretbar wäre. Derzeit gibt es in der Gesellschaft zu viele Impfgegner. Wenn die Politik es aber schaffen würde, hinreichend über die Impfstoffe aufzuklären, könnte sie differenziert vorgehen. Das hieße: Geimpften Freiheiten geben, die sie Nicht-Geimpften verwehrt. Wenn ausreichend aufgeklärt werden kann und das auch bei den Menschen ankommt, ist das aus moralisch-ethischer Sicht vertretbar.

Markus Gabriel

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