Flüchtlinge im Mittelmeer: Auch die Retter müssen sich jetzt retten
Libyen droht, Bulgarien will Soldaten an die Grenze schicken. Für die Vereinten Nationen ist Europas Flüchtlingsabwehr Rechtsbruch.
Wenige Tage nach der Ankündigung Libyens, das Operationsgebiet seiner Küstenwache über die libyschen Hoheitsgewässer auszudehnen, hat es bereits einen dramatischen Zusammenstoß gegeben: Nach Angaben der spanischen Flüchtlingshilfsorganisation "Proactiva Open Arms" wurde deren Schiff am Dienstag zwei Stunden lang von den Libyern festgehalten und bedroht, man werde schießen, falls die Besatzung sich den Anordnungen der Libyer widersetze. Die spanische NGO betonte, das Ganze habe sich in internationalen Gewässern abgespielt. Sie fährt als eine von wenigen Hilfsorganisationen noch immer Einsätze, nachdem die für das zentrale Mittelmeer zuständige Koordinationsstelle in Rom die Helfer gewarnt hatte, dass die Ausweitung der sogenannten "SAR"-Zone durch Libyen sie in Gefahr bringen könne. Schon in der letzten Woche hatten die Spanier berichtet, sie seien außerhalb der libyschen Küstengewässer aufgehalten und bedroht worden.
Rettungszone keine Rettung
Solche "Such- und Rettungszonen", englisch "Search and Rescue" (SAR) können Staaten einigermaßen frei, einseitig und unabhängig von ihrem Hoheitsgebiet auf See festlegen. Sie dienen eigentlich einer besseren Koordination der Rettung Schiffbrüchiger und der Teilung von Verantwortung dafür unter den Meeresanrainerländern. Libyen allerdings ist inzwischen wesentlicher Teil der europäischen Migrationskontrolle, die EU unterstützt die Küstenwache des Landes mit Geld und Knowhow, offiziell um Schlepperorganisationen zu bekämpfen. Kritiker sehen darin einen Versuch der EU und einzelner Mitglieder, die schmutzige Arbeit der Abwehr von Flüchtlingen an das nordafrikanische Land abzuwälzen. In Berichten der Vereinten Nationen und von Amnesty International ist von Folter, Missbrauch und menschenunwürdigen Zuständen für Migranten in libyschen Lagern die Rede. Hilfsorganisationen fürchten, dass Menschen, die sie retten, in der neuen SAR-Zone an die Libyer übergeben müssen. Die Kinderhilfsorganisation "Save the Children", die sich Anfang der Woche ebenfalls aus der Seerettung zurückzog, wertete den Zwischenfall um die spanische "Golfo Azzurro" nun als Beweis, dass es im erweiterten libyschen Operationsgebiet nicht um Notrettung geht: "Es ist offensichtlich nicht sicher in der libyschen SAR-Zone", erklärte ihr Einsatz-Chef Rob MacGillivray. Solange aber NGOs nicht mehr vor Ort seien, entstehe eine "beunruhigende Unsichtbarkeit", in der niemand mehr wisse, ob die Menschen, die verzweifelt versuchten, Libyen zu verlassen, ertrinken oder zurückgezwungen würden "in die Schrecken, denen sie gerade entkommen sind".
Bulgarien schickt Militär an die Grenze
Auch die Abdichtung der europäischen Landgrenzen geht weiter: In einem Interview mit der "Welt" kündigte Bulgariens Verteidigungsminister Krasimir Karakachanov am Donnerstag an, gegen Migranten künftig mit Militär vorzugehen. Er will dafür 600 Soldaten an die Grenze schicken. „Wir haben in der Praxis gesehen, dass das Militär bei der Grenzsicherung effektiver ist als Polizisten.“ Auch Videokameras und Drohnen will Karakachanov an der Grenze zur Türkei einsetzen. Militär empfahl der Minister auch gegen die Flüchtlinge auf See: „Wir können nicht zulassen, dass weiterhin illegale Migranten massenweise nach Europa kommen. Wir sollten in Italien und Griechenland Truppen von Nato oder EU einsetzen und die Außengrenzen der Europäischen Union notfalls mit Waffengewalt verteidigen.“ Die Flüchtlingshilfsorganisation Pro Asyl zeigte sich entsetzt: EU-Mitglieder brächen Völker- und Menschenrecht, erklärte Pro-Asyl-Geschäftsführer Günter Burkhardt und zitierte Artikel 2 des Vertrags der Europäischen Union: "Die Werte, auf die sich die Union gründet, sind die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit."
Massive Kritik der Vereinten Nationen
Die Vereinten Nationen haben Europas neue verschärfte Flüchtlingspolitik in ungewöhnlich deutlichen Worten kritisiert: Die EU verschiebe ihre Grenze nach Libyen und begehe dabei Rechtsbruch, erklärten der Sonderberichterstatter für die Menschenrechte von Migranten, Felipe González Morales, und der Folter-Sonderberichterstatter Nils Melzer am Donnerstag. Den Verhaltenskodex, mit dem Italien im Juli versuchte, Flüchtlingsretter an die kurze Leine zu legen, werten beide als Versuch, private Retter zu behindern. Schon der Kodex "bedroht Leben und bricht internationale Standards, weil er Menschen dazu verurteilt, in Libyen weitere Menschenrechtsverletzungen zu erleiden", heißt es in einer gemeinsamen Erklärung, die das Büro des Hochkommissars für Flüchtlinge veröffentlichte.
Weniger landen in Italien, mehr in Spanien
Im Sinne der beabsichtigten Abwehr ist die neue verschärfte Politik der EU offenbar ein Erfolg. Das Innenministerium in Rom veröffentlichte letzte Woche neue Zahlen der in Italien gelandeten Migranten. Allein im Juli schafften es demnach weniger als halb so viele Menschen den Weg wie im Juli des Jahrs 2016. Neuere Zahlen aus Spanien legen allerdings nahe, dass die Fluchtbewegungen sich lediglich verlagern - auch Italien wurde erst zum Hauptfluchtziel, nachdem die EU die Balkanroute nach dem Fluchtsommer 2015 abgedichtet hatte. In Spanien nämlich landen wieder mehr Menschen an, selbst über die stark gesicherte Meerenge vor Gibraltar vor den hochgerüsteten spanischen Exklaven in Marokko, Ceuta und Melilla. Dort kamen allein am Mittwoch 600 Flüchtlinge an - die höchsten Zahlen seit dem Höhepunkt der Flucht über die Kanarischen Inseln vor zehn Jahren. Seit Jahresbeginn wurden 9000 Migranten an Spaniens Küsten aufgefischt, das ist schon mehr als doppelt so viel wie im gleichen Zeitraum des Vorjahres. 3000 Menschen überwanden zudem in den spanischen Exklaven Ceuta und Melilla an der nordafrikanischen Küste die Grenzen. Das sind zwar deutlich weniger als in Italien mit mehr als 90.000 Ankömmlingen. Aber aus der stark steigenden Kurve in Spanien folgern die Frontex-Experten, dass auf Spanien der "größte Migrationsdruck der letzten Jahre" zukommt.
Die meisten in Spanien ankommenden Flüchtlinge kommen derzeit aus den westafrikanischen Armutsstaaten unterhalb der Sahara. Und aus Marokko, wo Unruhen und Repression in der nördlichen Rif-Region in den letzten Monaten hunderte junge Menschen in die Flucht trieben.
Ein Schiff kommt weiter
Die Arbeit der NGOs im zentralen Mittelmeer geht, wenn auch vermindert, unterdessen weiter. Der "Aquarius" von SOS Mediterranee gelang es in der Nacht zum Donnerstag nach eigenen Angaben, mehr als 100 Flüchtlinge aufzunehmen und mit Erlaubnis der italienischen Behörden im Hafen des sizilianischen Pozzallo an Land zu bringen. Auf dem Schiff arbeiten nach wie vor Helferinnen und Helfer von "Ärzte ohne Grenzen". Ihre eigenen Schiffe hat die Organisation allerdings ebenfalls aus dem Mittelmeereinsatz zurückgezogen.
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