Telemedizin und Videosprechstunde: Ärztetag erlaubt reine Online-Behandlungen
Wer sich medizinisch behandeln will, muss künftig nicht mehr in eine Praxis. Der Ärztetag hat das bisherige Fernbehandlungsverbot gekippt.
Ärzte dürfen künftig ihre Patienten auch ausschließlich via Telefon, Videoschalte oder Online-Chat behandeln. Die Delegierten des Ärztetages beschlossen dazu am Donnerstag in Erfurt mit großer Mehrheit eine Änderung ihrer Muster-Berufsordnung. Ob auch Rezepte und Krankschreibungen ohne persönlichen Arzt-Patienten-Kontakt möglich sein sollen, blieb offen. Möglicherweise müsse darüber die Politik entscheiden, hieß es.
Bislang sind Fernbehandlungen hierzulande nur erlaubt, wenn davor bereits eine persönliche Begegnung zwischen Arzt und Patient stattgefunden hat. Politiker, Krankenkassen und Patientenverbände begrüßten die Liberalisierung, es gab aber auch Warnungen und Kritik.
Bedingung ist Aufklärung und ärztliche Sorgfalt
„Eine ausschließliche Beratung oder Behandlung über Kommunikationsmedien ist im Einzelfall erlaubt, wenn dies ärztlich vertretbar ist und die erforderliche ärztliche Sorgfalt (...) gewahrt wird“, heißt es in dem Beschluss. Bedingung dafür ist zudem, dass die Patienten über die Besonderheiten dieser Art von Behandlung aufgeklärt werden.
Um bindend zu werden, muss die geänderte Vorgabe nun noch von den Landesärztekammern in ihre jeweiligen Berufsordnungen übernommen und von den Landesministerien für Gesundheit genehmigt werden. Nach Angaben von Ärztepräsident Frank Ulrich Montgomery kann das bis zu zwei Jahre dauern. Im vergangenen Jahr hatte die Ärztekammer Baden-Württembergs das Fernbehandlungsverbot bereits mit Modellprojekten gelockert, da dort immer mehr Patienten auf telemedizinische Leistungen in der Schweiz ausgewichen waren.
Gesundheitsminister will Experten über praktische Umsetzung beraten lassen
Gesundheitsminister Jens Spahn begrüßte die Entscheidung. Mit Online-Sprechstunden würden Patienten unnötige Wege und Wartezeiten erspart, sagte er. „Damit helfen wir Ärzten und Patienten.“
Der CDU-Politiker kündigte an, einen Runden Tisch mit Vertretern von Ärzteorganisationen und ihrer Selbstverwaltung sowie des Deutschen Pflegerates einzuberufen, der sich der praktischen Umsetzung des Beschlusses widmen soll. „Die neuen Möglichkeiten telemedizinischer Behandlung wollen wir jetzt auch für den Versorgungsalltag der Menschen erreichbar machen“, sagte Spahn. Er hatte bereits in seiner Grußrede zum Auftakt des Ärztetreffens für eine Lockerung des Fernbehandlungsverbots geworben.
Beifall der Krankenkassen
Beifall gab es auch von den Krankenkassen. Das Votum eröffne große Chancen, sagte der Vorstandschef der Barmer, Christoph Straub. "Mit der Fernbehandlung rücken Ärzte und ihre Patienten näher zusammen." Gefördert würden dadurch eine rasche Abklärung allgemeiner Beschwerden und vor allem eine intensivere Betreuung immobiler Patienten. Die AOK Nordost lobte den Schritt ebenfalls.
„Wir wollen und müssen diesen Prozess gestalten und dieses Feld mit unserer ärztlichen Kompetenz besetzen“, mahnte Josef Mischo, Vorstandsmitglied der Bundesärztekammer, die 250 Delegierten in Erfurt. Er stellte klar, dass digitale Techniken die ärztliche Tätigkeit nur unterstützen, nicht aber nicht die notwendige persönliche Zuwendung durch Ärzte ersetzen sollten.
Geringere Wartezeiten und weniger Ansteckung
Das Aktionsbündnis Patientensicherheit nannte die Abschaffung des Verbots einen längst überfälligen und notwendigen Schritt. Vor allem für mobil eingeschränkte Menschen könnten Fernbehandlungen eine große Hilfe sein, sagte Vorstandsmitglied Marcel Weigand dem ZDF. „Regionen, die mit bestimmten Facharztgruppen unterversorgt sind, könnten besser versorgt werden. Wartezeiten könnten reduziert werden, bei Menschen mit infektiösen Erkrankungen können sich andere Patienten und das Praxispersonal nicht anstecken. Außerdem könnten Spezialisten direkter hinzugezogen werden.“ Ob mehr Fernhandlungen auch Klinikeinweisungen verringern und Rettungsstellen entlasten könnten, müsse aber erst noch untersucht werden.
Bayerns Gesundheitsministerin Melanie Huml verspricht sich durch den Beschluss vor allem Verbesserungen im ländlichen Raum. Videosprechstunden etwa könnten dazu beitragen, ein flächendeckendes medizinisches Angebot bereitzustellen, sagte die CSU-Politikerin. Allerdings müsse der persönliche Arzt-Patienten-Kontakt "weiter an erster Stelle stehen“. Ausschließliche "Skype-Doktoren"- womöglich noch kommerzialisiert in der Hand von privaten Konzernen - dürfe es nicht geben
Patientenschützer warnen vor Kostensparprogramm
Vom Hausärzteverband kam nur verhaltener Beifall. Es brauche jetzt klare Regelungen, in welchen Fällen eine Fernbehandlung sinnvoll und möglich ist, sagte der Bundesvorsitzende Ulrich Weigeldt. In Hausarztpraxen würden ausschließliche Fernbehandlungen wohl die Ausnahme bleiben, prognostizierte her. Und entscheidend sei „dass diese Angebote für Patienten und Ärzte auch langfristig freiwillig bleiben und nicht als Kostensparprogramm für Krankenkassen missverstanden werden“.
Mit heftiger Kritik reagierte die Deutsche Stiftung Patientenschutz. Vorstand Eugen Brysch warf Spahn und der Ärztetags-Mehrheit „Volksverdummung“ vor. Telemedizin sei heute schon möglich und werde „zehntausendmal am Tag genutzt“. Anonyme Tele-Behandlungen seien aber etwas ganz anderes. „Die Call-Center-Betreiber reiben sich vor Freude über den neuen Markt die Hände. Auch Krankenkassen können sparen.“ Verlierer seien pflegebedürftige und schwerstkranke Menschen, die auf Hausbesuche ihrer Mediziner hofften. Schon heute bekämen Allgemeinmediziner Honorare gekürzt, weil sie zu viele Hausbesuche machten.