Agenda 2010: Armut macht unsichtbar
Kann man von Hartz IV leben? Zwei betroffene Frauen reden über ihr Schicksal und was geändert werden sollte.
Gaby F. litt jahrelang unter starker Migräne und Depressionen, bis sie nicht mehr arbeiten konnte. Nachdem die heute 59-Jährige ein Jahr Hartz-IV bezogen hatte, empfängt sie nun seit vier Jahren Erwerbsminderungsrente, 920 Euro pro Monat. Das reicht jedoch vorne und hinten nicht, daher kommen noch 200 Euro vom Amt dazu.
Einerseits ist sie froh, jetzt Rente beziehen zu können: „Hartz IV war viel belastender, man wurde ständig unter Druck gesetzt.“ Jetzt müsse sie nur noch zweimal im Jahr zum Amt und sich „nackig machen“, wie sie sagt, also alle Kontoauszüge vorlegen und dem Amt zur Kontrolle übergeben. Andererseits ermöglicht auch diese Rente kein Leben in Würde für die ehemalige Verwaltungsfachangestellte, die 20 Jahre im öffentlichen Dienst gearbeitet hat. Für Reparaturen oder Stromnachzahlungen sei kein Geld übrig, sagt sie.
Das Schlimmste an der Armut aber sei der soziale Rückzug: „Am Anfang denkt man sich noch Ausreden aus, warum man mit Freunden nichts unternehmen kann. Man schämt sich zu sehr zuzugeben, dass man kein Geld zum Kaffee trinken hat. Irgendwann hören die Freunde auf zu fragen.“
Das Problem des sozialen Rückzugs kennt auch Fanny H. Nur ist sie damit nicht allein, Hartz IV betrifft auch ihren 13-jährigen Sohn. Nach Abzug von Miete und der Anrechnung des Kindergeldes bleiben den Beiden noch 700 Euro, das sind etwa 23 Euro pro Tag. Die gelernte Krankenschwester studiert in Teilzeit Soziale Arbeit, ohne die Unterstützung ihrer Mutter wäre das nicht möglich. Nebenher geht sie noch putzen. Natürlich ist die 33-Jährige dankbar: sie hat eine Wohnung, sie kann heizen, beide sind gesund.
Also alles nicht so schlimm, kann man von Hartz-IV gut leben? Die Antwort ist ein klares Nein: „Alles auf der Welt kostet Geld“, sagt sie. Bis auf die Krankenversicherung sei keine Versicherung möglich, allein die Schulbücher kosteten 120 Euro pro Schuljahr, dazu kämen die Fahrkarte, die Mittagsbetreuung. Von Freizeit, Teilhabe, Hobbies gar nicht zu reden. Natürlich gibt es Fördervereine, die unterstützen können, aber die Scham bleibt. Auch das Jobcenter sei keine Hilfe. Das sei nur ein Ort der Willkür, da sind sich beide Frauen einig.
Hinsichtlich des Vorschlags der SPD, ein solidarisches Grundeinkommen einzuführen, ist Fanny H. skeptisch; sie bezweifelt, dass sich viel ändern würde. Viel wichtiger wäre, endlich den Regelsatz anzuheben oder zumindest das Kindergeld nicht mehr auf Hartz-IV anzurechnen. Aber auch eine Mietpreisbremse könnte helfen. Auch Gaby F. ist kritisch: „Man weiß noch zu wenig von den Vorstellungen der SPD.“ Das Wichtigste sei aber, dass die Regelsätze endlich an die Realität angepasst werden.
Ein erster Schritt sei aber schon mit der Diskussion getan, über soziale Ungerechtigkeit werde bei weitem nicht genug geredet. Auch deswegen haben beide ihre Erlebnisse auf Twitter mit dem Hashtag #unten geteilt. Denn: „Armut macht unsichtbar.“
Regina Wank