Das Virus wird zur Schuldfrage: Arme, Migranten - und Corona-Sündenböcke
Solidarität in Zeiten des Virus, das war einmal. Jetzt geht es bei Corona-Ausbrüchen um Schuldige. Und die sind allzu schnell gefunden. Ein Kommentar.
Als das Virus neu war und seine sprunghafte Ausbreitung von China aus über die ganze Welt noch gespenstisch, da war es geeignet, die Menschen zusammenrücken zu lassen. Niemand schien sicher zu sein, und völlig unkalkulierbar war auch, was im menschlichen Körper angerichtet wurde, wenn der erst mal befallen war.
Es bewies sich, dass ein gemeinsamer Gegner ein guter Kitt ist. Und da der in diesem Fall überall auf dem Globus wie eine launische Naturgewalt auftrat, war die gekittete Gruppe entsprechend groß.
Heute ist die kleine Coronakugel mit den vielen Noppen drauf als vertrauter Anblick geradezu ikonographisch. Seit Monaten kaum ein Tag ohne Erkenntniszugewinn für die Wissenschaft, ohne Informations-Update für die Bevölkerung. Und kaum ein Tag, an dem nicht diese oder jene Coronabekämpfungsmethoden diskutiert, ausgewertet und / oder modifiziert wurden.
Masken tragen, Abstand halten, Gruppen vermeiden, ein Strategie-Dreiklang, der deutliche Risikoverminderung verspricht, war gefunden: Das Virus wurde von der Naturkatastrophe zu einem beherrschbaren Problem. Die Menschen haben sich die Krise durch Kontrolle wieder angeeignet.
Wenn es jetzt zu neuen Ausbrüchen kommt, ist die Neigung entsprechend gering, darin noch mal das Walten des Schicksals zu sehen, dem man als Gemeinschaft trotzt. Jetzt geht es um andere Kategorien. Es geht um Schuld, Verantwortung und Stigma. Allesamt geeignet, Sündenböcke zu schaffen.
Rumänen und Bulgaren als Schuldige – das ist Spalterrhetorik
Das machte den vor ein paar Tagen sicherlich in der Hektik der Situation gesagten Halbsatz von NRW-Ministerpräsident Armin Laschet so schlecht überhörbar, „Rumänen und Bulgaren“ hätten die Viren aus ihrer Heimat mitgebracht, die dann den Coronaausbruch im Tönnies-Schlachtbetrieb in Rheda-Wiedenbrück auslösten.
„Gefährlich“ hat Außenminister Heiko Maas die Äußerung sogar genannt. Er hielt sich in Bulgarien auf als Laschet das sagte. Dort war man ebenfalls nicht amüsiert. Der Ministerpräsident von NRW formulierte später neu und rückte Tönnies als Verantwortlichen in den Fokus. Aber gesagt war gesagt.
[Alle aktuellen Entwicklungen in Folge der Coronavirus-Pandemie finden Sie hier in unserem Newsblog Über die Entwicklungen speziell in Berlin halten wir Sie an dieser Stelle auf dem Laufenden.]
Rumänen und Bulgaren als Schuldige – das ist Spalterrhetorik, von der nicht anzunehmen ist, dass sie auf gänzlich taube Ohren stoßen wird.
Desgleichen, wenn auch bisher fast ohne Nennung von Herkunft, geschieht in Berlin-Neukölln und Göttingen, wo ein ganzer Häuserblock und ein Hochhaus nach Coronaausbrüchen unter Quarantäne gestellt wurden. Der ersatzweise Hinweis lautete in diesen Fällen, die Betroffenen seien sozial schwach und sprächen kaum Deutsch.
In Bremerhaven brach das Virus bei einem Gottesdienst einer Gemeinde von Russlanddeutschen aus, davor gab es Ähnliches aus Frankfurt/Main zu vermelden. So kann nebenbei aus der Bedrohung durch ein Virus die Bedrohung durch Fremdstämmige, Ausländer, Bildungsferne und Arme werden, die man als jene ausmacht, die den Sinn der Bekämpfungsmaßnahmen nicht begreifen wollen oder befolgen können.
Das mag eine willkommene Entlastungsübung sein für eine Bevölkerung, die mehrheitlich weder arm noch ausländischer Herkunft ist und somit (trügerischerweise) meint, sich vor Corona sicher wähnen zu dürfen. Aber es ist mehr als ungut, wenn das auf diese unmoderierte, wabernde Art zum Thema wird.
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Aus anderen Ländern sind neben medizinischen längst auch sozioökonomische Daten zur Coronakrise bekannt. In Deutschland werden die nicht verknüpft, obschon das für die Bekämpfung des Virus wichtig sein kann, denn daraus könnte sich ablesen lassen, ob und wie man einzelne Milieus oder Gruppen unterschiedlich ansprechen muss, um das gewünschte Ziel der Regeleinhaltung und damit der Viruseindämmung zu erreichen.
Solche Zusammenhänge zu umschiffen, aus Angst vor deren Missbrauch durch geneigte Kreise, ist eine Strategie, deren Mängel sich in anderen Debatten längst erwiesen haben.