Göttinger Friedenspreis: Antisemitismus ist mehr als ein Label
Wann ist Kritik an israelischer Politik antisemitisch? Eine nicht ganz neue Frage und jüngste Antworten aus Göttingen. Eine Kolumne.
Seit 1999 wird der Göttinger Friedenspreis verliehen. Das lief 20 Jahre lang in der Regel so friedlich ab, wie von einem Preis dieses Namens zu erwarten. Nicht so dieses Jahr: Als bekannt wurde, wer ausgezeichnet werden soll, gab es viel Kritik, und auch während der feierlichen Verleihung am Samstag in Göttingen demonstrierten mehrere Dutzend Menschen gegen den Preisträger.
Was ist der Grund? Die Jury unter Vorsitz des UN-Korrespondenten der taz, Andreas Zumach, hatte sich im letzten Jahr entschieden, den Preis 2019 an die „Jüdische Stimme für gerechten Frieden in Nahost“ zu vergeben. Die „Jüdische Stimme“ gibt es seit 2003 als deutsche Sektion der ein Jahr zuvor gegründeten „European Jews for a Just Peace“. Sie tritt für die Zwei-Staaten-Lösung und das Recht von Israelis und Palästinensern auf Jerusalem als Hauptstadt ein, fordert den Rückzug Israels auf seine Grenzen von 1967 und somit den Abzug aus den seither besetzten Gebieten.
Die Jury-Entscheidung wurde schon im September öffentlich. Aber erst vor einem Monat löste das einen Entrüstungssturm aus, in dessen Folge sich die Stadt und die Universität Göttingen von der diesjährigen Preisverleihung zurückzogen und die örtliche Sparkasse ihren finanziellen Beitrag für dieses Jahr sperrte. Zentraler Vorwurf derer, die dies in Mails und Briefen an diese drei und die Stiftung hinter dem Preis forderten: Antisemitismus. Antisemitisch nämlich sei die BDS-Bewegung (englisch für Boykott, Nicht-Investition und Sanktionen), und hinter deren Forderungen steht die "Jüdische Stimme".
Immer erbittertere Kontroversen
Die Kontroverse zeigt das Muster ähnlicher Auseinandersetzungen, die in den letzten Jahren immer erbitterter geführt zu werden scheinen. Was sie von anderen unterscheidet: Diesmal endete die Sache nicht, wie so oft, mit dem Antisemitismus-Vorwurf, der nichtjüdische Institutionen und Behörden nicht nur in Deutschland sofort und ohne Prüfung zum Schweigen und zum Rückzug bringt. Die Jury blieb stattdessen bei ihrer Entscheidung und sammelt das für die Preisverleihung nötige Geld inzwischen mit einem Spendenaufruf ein. Nach der Ausladung aus dem Göttinger Rathaus hat sie einen neuen Ort für den Festakt gefunden.
Vor allem aber machte sich ihr Vorsitzender Andreas Zumach die nicht kleine Mühe, sich mit den Vorwürfen inhaltlich auseinanderzusetzen, wobei ihm neben einem breiten Kreuz auch seine Berufs- und Lebenserfahrung zugute kamen. Er widerlegte Falschbehauptungen wie die, die „Jüdische Stimme“ sei ein Teil von BDS. Er erinnerte daran, dass es Belege für deren angeblichen antisemitischen Charakter nicht gebe und argumentierte gegen den verbreiteten Kurzschluss „Boykott gleich antijüdischer NS-Boykott 1938“.
Wo bleiben die Gegenargumente?
Den hatte auch Josef Schuster, der Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland, in seinem Protestbrief an den Göttinger Oberbürgermeister gezogen. Boykotte, so Zumach, hätten sich seit der Kampagne der Quäker im 17. Jahrhundert gegen von Sklaven hergestellte Waren stets gegen Unrecht, Unterdrückung, Ausbeutung und Rassismus gerichtet.
Einer der erfolgreichsten sei der der jüdischen Anti Defamation League in den 20er Jahren gegen den Automobilhersteller Ford gewesen, die Henry Ford zwang, seine antisemitischen Hetzschriften aufzugeben. Es sei „infam“, den Nazi-Boykott, den einzigen, der eine Minderheit diskriminierte und schließlich nach Auschwitz führte, gleichzusetzen mit Aufrufen, die der „Überwindung einer völker- und menschenrechtswidrigen Politik einer Regierung“ dienen wollten.
Es wäre interessant, dazu Gegenargumente zu hören. Aber die gibt es in Göttingen nicht, die Vertreterinnen von Stadt und Universität haben sich zurückgezogen. Viel zu oft wird aus Angst vor dem Vorwurf Antisemitismus die Frage gar nicht erst gestellt, was ihn ausmacht, wie er zu erkennen ist und welche neuen Formen er nach 1945 angenommen hat. Öffentlich jedenfalls und am konkreten Fall durchbuchstabiert. Es hilft wenig zu versichern, dass Kritik an israelischer Politik natürlich legitim sei, wenn sie in eben dem konkreten Fall wieder als antisemitisch gebrandmarkt wird.
Wissen, die Basis, die es für fruchtbare Debatten braucht, gibt es. Universitäten und andere Forschungseinrichtungen – etwa das Zentrum für Antisemitismusforschung in Berlin – sammeln es seit vielen Jahren. Es sollte genutzt werden für Fälle wie den in Göttingen und damit vielleicht auch verhindern, dass das gefürchtete Etikett so oft vergeben wird, bis es irgendwann überall klebt und damit gar nichts mehr bezeichnet. Und das in einem Land, das den alten Antisemitismus alles andere als überwunden und neuen hinzubekommen hat. Man muss nur in Polizeistatistiken sehen, vor allem aber Jüdinnen und Juden zuhören, die hier leben.
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