„Die Statistik gibt nicht die Realität wider“: Antisemitische Straftaten unter dem Radar der Polizei
Laut AJC und Rias erschwert die Erfassung judenfeindlicher Taten Ermittlung und Prävention – und vernachlässigt die Gefahr durch Gruppen wie die Grauen Wölfe.
Antisemitische Kräfte nutzen die Raketenangriffe islamistischer Kräfte im Gazastreifen auf israelische Städte und die militärische Vergeltung durch Israel zu Protestkundgebungen in Deutschland. Dabei wird vielerorts zu Hass gegen Juden aufgerufen und werden jüdische Einrichtungen angegriffen.
Dahinter steht ein breites Spektrum, das von deutschen Extremisten über israelfeindliche Organisationen bis zu radikalen türkischen, arabischen und islamistischen Gruppen reicht. Doch in der offiziellen Statistik über antisemitische Straftaten in Deutschland wird diese Breite der Motivationen in ihrer tatsächlichen Bedeutung ebenso wenig auftauchen wie in den vergangenen Jahren. Denn die kennt für diese politisch motivierte Kriminalität (PMK) nur fünf Kategorien: PMK-rechts, PMK-links, PMK-ausländische Ideologie, PMK-religiöse Ideologie, PMK-nicht zuzuordnen.
„Die Statistik gibt die Realität nicht wieder“, moniert Remko Leemhuis, Direktor des American Jewish Committee (AJC) Berlin. Sie bedient sich einer verzerrenden Praxis bei der Erfassung antisemitischer Delikte. Wenn der oder die Täter nicht ermittelt werden, wird eine antisemitische Straftat nicht als „nicht zuzuordnen“ registriert, obwohl es diese Kategorie gäbe, sondern als PMK-rechts. Dies geht auf eine Vorgabe des Bundeskriminalamts (BKA) zurück.
Nicht aufgeklärte Taten gelten pauschal als "rechts"
Das Ergebnis: Von 2351 antisemitischen Straftaten 2020 – die höchste Zahl seit Beginn der Erfassung 2001 – werden 2224, weit über 90 Prozent, als „rechts“ verbucht. Nach Schätzungen von Experten betrifft das rund die Hälfte der antisemitischen Straftaten in Deutschland. Sie sind nicht eindeutig weltanschaulich zuzuordnen, werden dann aber als „rechts“ eingestuft. Leemhuis fordert, diese Praxis zu ändern.
Dem AJC-Direktor liegt es fern, deutsche Rechtsextremisten zu entlasten. „Von denen geht auch bei einer realitätsnahen Erfassung die größte Gefahr aus“, betont er. Leemhuis besorgt, dass „die Ermittlungen und auch die Prävention neuer Straftaten durch Verzerrungen in der Statistik erschwert werden. Wie wollen wir Antisemitismus bekämpfen, wenn wir kein vollständiges Bild haben, woher er kommt?“
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Als eine Gruppe, die unter dem Radar der deutschen Polizei agiert, nennt Leemhuis die Grauen Wölfe. Diese rechtsextreme türkisch-nationalistische Bewegung spiele eine Rolle bei den aktuellen Protesten gegen Israel im Ruhrgebiet. Die Polizei müsse darin geschult werden, deren ideologische Codes, darunter den Wolfsgruß, zu erkennen. Die Grauen Wölfe seien eine der größten rechtsextremen Bewegungen in Deutschland mit mehr als 18.000 Mitgliedern, wie eine Studie des AJC kürzlich ergab.
Aus dem Blick gerät der Alltags-Antisemtismus der Mitte der Gesellschaft
Alexander Rasumny vom Bundesverband der Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus (Bundesverband RIAS), teilt die Kritik an der statistischen Erfassungspraxis. Die Kategorien seien außerdem „zu starr, um die Vielzahl der Spektren abzubilden“. Der Bundesverband RIAS hat Opfer befragt. Demnach lassen sich 45 bis 55 Prozent der antisemitischen Straftaten nicht eindeutig weltanschaulich zuordnen.
Deren pauschale Einordnung als „rechts“, auch wenn keine weiteren Hinweise vorliegen, findet Rasumny „problematisch“. Aus dem Blick gerate zudem, dass es auch einen bürgerlichen Alltags-Antisemitismus in der Mitte der Gesellschaft gebe, wenn die Statistik vorgebe, Antisemitismus allein als rechten oder anderen Extremismus zu denken.
„Wenn in Hohenschönhausen oder Brandenburg Hakenkreuze an Wände geschmiert werden“ und kein Täter ermittelt wird, ist die Zuordnung „rechts“ zumindest plausibel, sagt Leemhuis. Wenn ein Mensch mit Kipa hingegen in Kreuzberg oder Neukölln antisemitisch beleidigt und kein Täter ermittelt werde, sei es „nicht schlüssig“, den Vorfall als „rechts“ zu verbuchen.
Delikte mit islamischem Hintergrund werden unterspielt
Nach den Betroffenenberichten des Bundesverbands RIAS war in vergangenen Jahren der Anteil der Fälle mit Hintergrund im im antiisraelischen Aktivismus, im Islamismus oder im Antiimperialismus gerade von Angesicht zu Angesicht hoch und wird durch die statistische Verzerrung unterspielt. In eine ähnliche Richtung weist eine EU-Studie unter Opfern antisemitischer Straftaten. Auf die Frage, ob sie Näheres zu den Tätern sagen können, antworteten 31 Prozent, das könnten sie nicht. 30 Prozent beschrieben sie als Menschen mit muslimisch-extremistischen Überzeugungen und 21 Prozent als Personen mit linken Ansichten.
Was würde sich ändern, wenn antisemitische Straftaten, die nicht zuzuordnen sind, nicht mehr als "rechts" in die Statistik einfließen? Leemhuis hofft, dass bei einem Anteil von nicht aufgeklärten Straftaten um die 50 Prozent der Druck auf die Politik steigt, mehr Mittel in die Erforschung und Prävention antisemitischer Delikte zu investieren sowie in die Ausbildung der Polizei.