Die Kabul-Krise der Regierung: Angela Merkel und das Bild, das bleiben wird
Interne Dokumente zeigen, wie Zeit für die Rettungsaktion in Kabul verloren wurde. Und wie falsch der BND lag. Kanzlerin Merkel wird nun an einer Zahl gemessen.
Politik wird auch von Bildern geprägt. Und so wirkt dieser Auftritt von Angela Merkel zumindest vom Bild her unglücklich. Während Bundeswehrpiloten darum kämpfen, dass die ersten A400M in Kabul landen können, um Menschen aus dem von den Taliban eroberten Afghanistan auszufliegen, lächelt Angela Merkel im Kino in die Kameras, bei der Premiere des Films „Die Unbeugsamen“. „Deutsche bangen um ihr Leben. Und Merkel lacht im Kino“ titelt die ihr nicht immer wohlgesonnene „Bild“-Zeitung.
Es geht bei der Vorführung im Delphi Filmpalast Berlin um Frauen, die sich in der Politik engagieren. Und Merkel vergisst die Afghaninnen an diesem Abend hier nicht. Sie sei in Gedanken bei den Frauen, die in diesen Stunden um ihr Leben fürchten müssen, „weil sie sich politisch engagiert hätten.“
Zum Ende ihrer Kanzlerschaft steht sie nun vor den Scherben des Afghanistan-Einsatzes, den sie 2005 von Gerhard Schröder „geerbt“ und den sie immer wieder verteidigt hatte. Auch weil die Bundesregierung, wie Außenminister Heiko Maas (SPD) offen eingeräumt hat, die Lage völlig falsch eingeschätzt hat. Es zieht sich wie ein Faden durch die Regierungszeit, dass Merkel oft erst abgewartet, sich versucht hat, ein Bild zu machen.
Aber die Tage vor der sehr spät angelaufenen Evakuierungsaktion, das monatelange Verhaken mehrerer Ministerien in der Frage, welche Ortskräfte wie und wann nach Deutschland dürfen, stellen die Frage nach Merkels Verantwortung. Und ob nicht wegen Verfahrensfragen mehrere Tage verloren wurden.
BND: Einnahme Kabuls nicht vor 11. September
Die eklatanteste Fehleinschätzung kommt aber am Freitag, dem 13. August vom Bundesnachrichtendienst. Eine hochrangige Vertreterin trägt dem Krisenstab der Bundesregierung vor, dass die "Taliban-Führung derzeit kein Interesse an der militärischen Einnahme Kabuls" habe. Das geht aus dem Protokoll hervor, das dem Tagesspiegel vorliegt. Die Übernahme Kabuls durch die Taliban vor dem 11. September sei "eher unwahrscheinlich", referiert die BND-Vertreterin. Zwei Tage später hatten die Taliban Kabul eingenommen. Entsprechend deutlich widerspricht der zugeschaltete stellvertretende Botschafter Deutschlands in Afghanistan, Jan Hendrik van Thiel. Man ist sich weitgehend einig, dass es eine Evakuierungsaktion braucht.
Doch es gibt einen Dissens. Dem Tagesspiegel liegt ein als Verschlusssache deklariertes Dokument vor, in dem Juristen des Auswärtigen Amtes ebenfalls an diesem Freitag, 13. August, eine Stellungnahme zur „Parlamentarischen Beteiligung bei Entsendung militärischer Kräfte zur Absicherung unserer Maßnahmen in Kabul“ vorlegen. Dabei wird von der Verlegung von bis zu 400 Bundeswehrsoldaten nach Kabul gesprochen. Zu diesem Zeitpunkt ist die Bundeswehr bereits für den Evakuierungseinsatz bereit.
Der wichtigste Punkt: Das bestehende, vom Bundestag beschlossene Afghanistan-Mandat zur Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte am Nato-geführten Einsatz „Resolute Support“ habe noch eine Gültigkeit bis zum 31. Januar 2022 und sei eine „hinreichende Grundlage für eine derartige Entsendung“.
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Der Streit um das Afghanistan-Mandat
Aber Merkel und das Verteidigungsministerium mit Ministerin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) halten trotz dieser Facheinschätzung ein neues Mandat für notwendig, statt sofort zu starten.
Es kommt am Samstag, 08 Uhr, zu einer Schalte mit Kanzleramt, Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) , Außenminister Heiko Maas (SPD), Vizekanzler Olaf Scholz (SPD) und weiteren Beteiligten. Die SPD-Seite hält das bisherige Mandat weiter für ausreichend, Kabul steht bereits vor dem Fall.
Es geht immer wieder um die Frage, ob nicht zunächst der Bundestag ein neues Mandat beschließen muss. Sonntagnachmittag tagt der Krisenstab mit der Regierung, die Lage hat sich dramatisch zugespitzt.
Kabul ist gefallen.
Nun bittet das Bundeskanzleramt schließlich, in der Krisenstabssitzung „Einigkeit über die Durchführung einer robusten militärischen Evakuierung herzustellen („Gefahr im Verzug“). Mit dieser Begründung soll eine erste spätere Beschlussfassung von Kabinett und Bundestag ermöglicht werden. Um 18.30 Uhr unterrichtet Merkel die Fraktionsvorsitzenden im Bundestag. Das Bundesinnenministerium von Horst Seehofer (CSU) habe nun auch „Visa on arrival“ zugesagt, also Visa und Sicherheitsprüfung erst nach der Einreise, statt in Kabul.
Und Lufthansa-Chef Carsten Spohr habe angeboten, von Kabul nach Usbekistan ausgeflogene Menschen von dort nach Deutschland fliegen zu lassen.
Das Kanzleramt weist die Annahme zurück, „dass Fragen zum Mandatierungsprozess zu einer Verzögerung des Beginns der militärischen Evakuierungsoperation geführt haben“.
Seehofer gegen "Visa on arrival"
Wenn das stimmt, bleibt trotzdem ein Punkt, der nun besonders stark ins Gewicht fällt und die Ortskräfte in Kabul wütend macht. Auch Merkel hat zwar immer wieder nachgefragt, was denn mit Charterflügen für Ortskräfte sei, doch die zentrale Blockade löste sie nicht auf. Dazu hätte sie den Konflikt mit Innenminister Horst Seehofer (CSU) riskieren müssen
Denn eine Visa-Erteilung erst in Deutschland, um eine schnelle Ausreise zu ermöglichen, war wochenlang nicht möglich, erst jetzt im Angesicht des Fall von Kabul.
Merkel ließ den internen Streit lange laufen. Schon vor zwei Monaten hatte die Innenministerkonferenz der Länder den Bund zur schnellen Aufnahme von Ortskräften aus Afghanistan aufgefordert; Vorkehrungen für eine „beschleunigte und flexible Bearbeitung“ des Visumverfahrens seien zu treffen, sowie eine „Verschlankung und Beschleunigung“ per „Visa on arrival“, also nach Ankunft in Deutschland.
Doch gerade Innenminister Seehofer blockierte hier. Und so saßen die Ortskräfte in Kabul nach dem Einmarsch der Taliban in der Falle. Wer nun in der chaotischen Situation noch zusätzlich auf die Fluglisten kommen kann, ist völlig offen, mehrere Ortskräfte berichten von weiteren Absagebescheiden der Bundeswehr.
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Verzögerungen und bürokratische Hürden
Die Verzögerungen, Fehleinschätzungen und so manche, von der Bundesregierung aufgestellte bürokratische Hürde kann in Kabul zitternden Helfern der Deutschen das Leben kosten. Die Botschaft versucht den hunderten Anfragen in Kabul Herr zu werden, die immer verzweifelter werden, je enger die Taliban den Sicherheits- und Kontrollring um den noch von den Amerikanern gesicherten Flughafen ziehen. „Das Auswärtige Amt besteht da noch aus drei Personen“, heißt es in Berlin etwas resignierend.
Der stellvertretende Botschafter Jan Hendrik van Thiel, der schon vor Wochen vor einem Durchmarsch der Taliban warnte, versucht am Flughafen, die Ausreisen zu organisieren. Bundeswehrsoldaten haben einen Checkpoint am militärischen Teil des Flughafens errichtet, rein kommt nur, wer auf Listen steht. Aber das Chaos vom Montag, der Sturm auf den Flughafen, der nach Doha geflogene Militärtransporter mit 640 Menschen an Bord, hat gezeigt, wie fragil und hochgefährlich dieser Rettungseinsatz ist.
Merkels Versprechen: 10 000 Menschen rausholen
Merkel hat im CDU-Vorstand das Ziel ausgegeben, dass bis zu 10.000 Menschen – zum Beispiel Helfer der Bundeswehr und Entwicklungsorganisationen, Frauenaktivistinnen, Menschenrechtlerinnen und Journalisten mit ihren Familien – per Luftbrücke über Usbekistan nach Deutschland gebracht werden sollen. Daran wird sie nun gemessen.
Drei tägliche Slots für Landungen deutscher Militärmaschinen haben die US-Streitkräfte nun gestattet, das macht knapp 400 Menschen, die ausfliegen können, am Tag.
Merkel kann nur noch Schadenbegrenzung betreiben; und während deutsche Staatsbürger noch relativ risikolos zum Flughafen kommen können, kann dieser Weg für afghanische Ausreisewillige lebensgefährlich sein.
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Und so erlebt das Land nun wieder eine Kanzlerin, die engagiert reagiert, sich an das Telefon klemmt und mit Staatschefs in aller Welt versucht, Lösungen für die Lage zu finden, die sie gefürchtet, aber so nicht erwartet hat. In Regierungskreisen wird nun immer wieder auf die Geheimdienste verwiesen, die ja auch nicht mit so einem Durchmarsch der Taliban gerechnet – und einer kampflosen Aufgabe der afghanischen Armee mitsamt der Flucht des Präsidenten Aschraf Ghani – gerechnet hätten. Das Problem war auch, dass es nach dem Abzug der Nato-Streitkräfte weniger valide Informationen gab.
Ein Historiker rechnet mit ihrer Außenpolitik ab
Mit US-Präsident Joe Biden muss Merkel klären, dass der Flughafen möglichst lange offengehalten und von den Amerikanern gesichert wird. Die Bundeswehr alleine würde das nicht schaffen. „Gerade in Bezug auf Afghanistan blieb Deutschland der Schoßhund der USA“, betont der Historiker Michael Wolffsohn. Er hält Merkel eine oft doppelbödige, nicht durchdachte Außenpolitik vor. „Das Afghanistan-Debakel ist „nur“ die Spitze des Eisberges“, so Wolffsohn.
Besonders eklatant sei die Doppelbödigkeit beim Thema Russland. „Einerseits begab sich Deutschland unter Merkel in energiepolitische Abhängigkeit von Russland. Stichwort North Stream 1 und 2. Andererseits will man durch Sanktionen dieses mächtige Russland wegen der Krimannexion und des Ukrainekrieges – zu einer Kursänderung bringen“. Und warum der Mali-Einsatz, „wie der in Afghanistan ohne jegliche Strategie angepackt und durchgeführt, auch unsere Sicherheit fördern solle, bleibt Merkels Geheimnis.“ Auch dieses künftige Debakel habe sie letztlich mitzuverantworten.
Die FDP fordert eine Konferenz wie 1979 für die Vietnam-Flüchtlinge
Der nordrhein-westfälische Integrationsminister Joachim Stamp (FDP) hatte schon im Juni eine Lösung für die Ortskräfte angemahnt und NRW würde mindestens 800 Plätze anbieten. „Angela Merkel hat die Richtlinienkompetenz und insofern ist das Desaster, das es jetzt gegeben hat, wesentlich auch in ihrer Verantwortung“, sagt er im Gespräch mit dem Tagesspiegel.
Stamp fordert von Merkel, eine Konferenz einzuberufen, „die sich an der Genfer Konferenz von 1979 orientiert und der Lösung, die man damals für die Boots-Flüchtlinge aus Vietnam gefunden hat.“ Damals sei es gelungen, Hunderttausende zu retten und weltweit an unterschiedlichen Orten geordnet umzusiedeln. „Hier sollte man mit großen Ländern wie USA, Kanada, Frankreich sehr schnell eine Konferenz auf den Weg bringen, um zu sehen, wer alles international bereit ist, welche Kontingente zu übernehmen und wann“, sagt Stamp an die Adresse Merkels. „Da muss Deutschland auch seinen Beitrag leisten."
Kann Putin ihr helfen?
Am Freitag reist Merkel – das war zuvor schon geplant – zum russischen Präsidenten Wladimir Putin. Kann er auf die Taliban einwirken, dass sie auch afghanischen Ortskräften freies Geleit geben? „Man muss irgendwann auch mit den Taliban reden“, heißt es in deutschen Regierungskreisen. Markus Potzel, früher selbst Botschafter in Kabul und seit 2017 Sonderbeauftragter der Bundesregierung für Afghanistan und Pakistan, soll in Doha ausloten, was machbar ist, dort sitzen Vertreter Katars, US-Unterhändler sind dort – und Vertreter der Taliban.
Diplomat Protzel wolle in seinen Gesprächen in Doha darauf hinwirken, „dass auch Ortskräfte sich an den Flughafen begeben können und auch ausgeflogen werden können“, sagte Außenminister Maas am Dienstag. Bislang können nach seinen Angaben nur ausländische Staatsbürger die Taliban-Kontrollposten auf dem Weg zum Flughafen der Hauptstadt Kabul passieren, afghanische Bürger würden zurückgewiesen.
Was im Land genau vor sich geht, ob die Taliban vielleicht auch einen moderateren Kurs einschlagen könnten, wer wirklich das Kommando hat, viele wissen es nicht genau. „Die Dienste sagen, wir haben da keine validen Informationen mehr“, wird in Berlin berichtet – durch den Abzug der Streitkräfte gibt es kaum noch Informanten vor Ort.
Eine Krise ohne Drehbuch
Es ist noch einmal eine ungewöhnlich schwierige Lage für Merkel. Nun, wo die Krise da ist, versucht die Kanzlerin, sie zu durchdenken und zu managen, eigentlich ihre Stärke, aber vieles liegt nicht in ihrer Hand.
Ihr Sprecher Steffen Seibert teilt mit, Merkel habe mit dem französischen Staatspräsidenten Macron, dem britischen Premierminister Johnson, dem italienischen Ministerpräsidenten Draghi sowie dem UNO-Hochkommissar für Flüchtlinge Grandi zur Lage in Afghanistan gesprochen. „Weitere Telefonate mit Staats- und Regierungschefs, auch aus der Region rund um Afghanistan, sind vorgesehen.“ Auch sie wurde kalt erwischt – wie der Krimi von Kabul ausgeht, das wird letztlich auch das gesamte Bild ihrer Kanzlerschaft nun mitprägen.