Kanzlerin ohne Mehrheit: Angela Merkel im Fokus der Welt
Erst galt sie als Führerin des Westens, nun fehlt der Kanzlerin sogar in Deutschland die Mehrheit. Wie wird Angela Merkel im Ausland gesehen? Ein Überblick.
Die schwierige Regierungsbildung nach der Bundestagswahl vom 24. September irritiert und verunsichert auch Politiker und Medien im Ausland. Die einen frohlocken - die anderen fürchten Instabilität.
Frankreich
Was ist in Deutschland los, wird Angela Merkel scheitern? Diese Frage hört man in Frankreich derzeit häufig. Wenn Franzosen in Umfragen sagen sollen, was ihnen zuerst zu Deutschland einfällt, wurde immer Angela Merkel genannt. Und nun scheint dieses Symbol der Stabilität zu wanken, die Franzosen sind besorgt. Denn Deutschlands Krise betrifft auch Frankreich und Präsident Emmanuel Macron, der mit seinen Europaplänen blockiert ist. Die einst mächtigste Frau der Welt wird in Frankreich als geschwächt empfunden, und damit auch Deutschland.
Viele befürchten, dass eine Ära in Deutschland zu Ende geht. „Ist es das Ende von Angela Merkel?“, fragt der Radiosender Europe1 und die Tageszeitung „Le Figaro“ formuliert: „Sie kämpft um ihr politisches Überleben.“ Doch ganz wollen die Franzosen nicht an das Ende dieses deutschen Symbols glauben, zu stark erscheint ihnen Merkel immer noch. Ihr ist es schließlich schon oft gelungen, Krisen zu meistern. Die Franzosen stellen sich vor allem die Frage, die die Sonntagszeitung „Le Journal du Dimanche“ aufwirft: „Können die Sozialdemokraten Angela Merkel retten?“
Trotzdem wird schon spekuliert, wer auf Merkel folgen könnte, genannt werden Annegret Kramp-Karrenbauer und Ursula von der Leyen. Eine wirkliche Alternative zur einst so starken Merkel wird aber in Frankreich noch nicht gesehen. „Les Echos“ betont deshalb: „Selbst wenn Angela Merkel geschwächt ist, weil es ihr nicht gelungen ist, eine Koalition zu bilden, muss sie an der Spitze bleiben, die nahe Zukunft Europas hängt davon ab.“ Tanja Kuchenbecker
Italien
Die italienischen Medien sind sich einig: Es ist Kanzlerinnendämmerung, „der Fall der lieben Angela“ (Giuliano Ferrara im rechten „Il Foglio“). Eine Legende habe Risse und könne nun ganz zerfallen, schrieb der Deutschlandkorrespondent des „Corriere della Sera“ nach dem Scheitern der Jamaika-Gespräche. Kein Plan in der Flüchtlingskrise, verfehlte Klimaziele, sie habe die Brexit-Gefahr unterschätzt und bis zum Dieselskandal nichts gegen das inzestuöse Verhältnis von Regierung und Autoindustrie in Deutschland getan, meint Danilo Taino. Das sei falsche Politik, dazu komme ein politischer Fehler: Das vierte Mandat als Kanzlerin war „zuviel für ein demokratisches Land“.
„Merkels Krise“ überschrieb die römische „la Repubblica“ ihren Bericht über das Ende von Jamaika, ihre Berliner Korrespondentin Tonia Mastrobuono spricht von „einer schweren Niederlage“ der Kanzlerin. Kommentator Angelo Bolaffi sieht Verschleiß durch die Macht. Vor allem aber zahle Merkel wie alle bedeutenden Bundeskanzler den Preis für eine mutige Entscheidung, Brandt einst für die Ostverträge, sie jetzt für ihre Flüchtlingspolitik. Am vorsichtigsten ist ausgerechnet ein ehemaliger Kollege, der Merkel in gegenseitiger Nichtschätzung verbunden war. „Ich wäre vorsichtig, Frau Merkel schon kurz vor dem Rücktritt zu sehen“, twitterte Ex-Premier Silvio Berlusconi, selbst ein Meister politischen Überlebens. „Im Moment sehe ich keinen anderen Stabilitätsanker in der deutschen Politik als sie.“ Andrea Dernbach
Großbritannien
Gisela Stuart, die deutschstämmige Labour-Politikerin und stramme Brexit-Anhängerin, jubelte nach dem Zusammenbrechen der Jamaika-Sondierungen: Nun herrsche „Panik“ in der deutschen Politik, und das komme davon, wenn man nicht auf die euro-skeptischen Wähler höre, die nichts wissen wollten vom EU-Superstaat. Auch die Brexit-Hardliner bei den Konservativen freuten sich zunächst: Jetzt herrsche Regierungskrise in Deutschland, und das könne nur gut sein für den britischen EU-Austritt, war zu hören. Zum Beispiel könne man die Situation nutzen, die „Austrittsrechnung“ in den Verhandlungen mit der EU zu senken.
Und überhaupt: Regierungskrise in Deutschland kann von der eigenen ablenken, die seit dem Austrittsreferendum im Juni 2016 schwelt. Aber da war wohl manchen nicht klar, dass geschäftsführende Bundesregierungen durchaus einige Monate währen können. Und nun, da sich die Fortführung der schwarz-roten Koalition am Horizont zeigt, wäre in Brexit-Dingen Kontinuität angesagt. Angela Merkel gilt in Großbritannien als Sinnbild für deutschen Pragmatismus und politische Stabilität. Die „Göttin des Common Sense“ hat der bekannte Publizist Simon Jenkins sie genannt. Man sieht die Kanzlerin auch gern als eine Kraft, die dem französischen Drang nach „mehr EU“ widersteht. Mit Emmanuel Macron als „Chef-Europäer“ könnten die weiteren Verhandlungen mit den EU-Partnern möglicherweise schwieriger werden, lautet eine stetige Befürchtung in London. Albert Funk
Türkei
Die Schwierigkeiten von Angela Merkel bei der Regierungsbildung haben dem Ruf der Kanzlerin als wichtigste Politikerin Europas aus Sicht der Türkei einen schweren Schlag versetzt. „Ist die Legende Merkel am Ende?“ fragte die Zeitung „Karar“ in der Überschrift einer Analyse, die den französischen Staatspräsidenten Emmanuel Macron als neuen Chef der europäischen Spitzenpolitiker bezeichnete.
Politiker in Ankara denken möglicherweise ähnlich. Jedenfalls lässt die Telefon-Diplomatie von Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan nach seinem Gipfeltreffen mit Amtskollegen aus Russland und Iran, Wladimir Putin und Hasan Ruhani, einen solchen Schluss zu. Nach seinen Gesprächen mit Putin und Ruhani über den Syrien-Konflikt informierte Tayyip Erdogan per Telefon zuerst Donald Trump und dann Macron. Angela Merkel stand nicht auf der Anrufliste.
Das Bild von der Politik Merkels in der Türkei war bisher vor allem von ihrer unangefochtenen Führungsposition in Europa geprägt. Dieses Bild gerät nun ins Wanken. Erdogan oder andere Regierungspolitiker haben sich bisher nicht zu Merkels innenpolitischen Problemen geäußert, doch in der regierungsnahen Presse wird angesichts der deutsch-türkischen Spannungen der vergangenen Monate mit einer gewissen Schadenfreude registriert, dass ihr Verbleib im Kanzleramt nicht mehr völlig gewiss ist. Inzwischen werde schon der Rücktritt der Regierungschefin verlangt, meldete die Zeitung „Türkiye“. Susanne Güsten
Russland
„Das Ende der Ära Merkel“ meldete die staatliche russische Nachrichtenagentur Ria Nowosti kurz nach dem Abbruch der Jamaika-Koalitionsverhandlungen. Da schien der Wunsch Vater des Gedankens gewesen zu sein. Im russischen Meinungsmainstream ist die deutsche Kanzlerin nicht besonders wohlgelitten. Ihre in den Medien als bedrohlich und unvernünftig dargestellte Flüchtlingspolitik wird heftig kritisiert, ebenso wie ihre entschiedene Haltung in der Ukrainekrise und ihre proeuropäischen Positionen. Der Staatssender RT nannte sie vor ein paar Tagen die „Eiserne Frau Europas“ – was nicht als Kompliment gemeint war. Jeden Rückschlag Merkels nimmt man mit Genugtuung zur Kenntnis, ergibt sich für den Kreml dadurch doch die Möglichkeit der Schwächung des Projekts Europa.
Ein Deutschland ohne Merkel böte die Chance auf einen Neustart mit einem Politiker mit weniger strikten Überzeugungen. Solange das nicht eintritt, zieht man eine Große Koalition mit der SPD einer unwägbaren Jamaika-Kombination vor. Schließlich sind es sozialdemokratische Kreise, die vor allem auf mehr Dialog mit dem Kreml pochen, auch wenn nicht immer klar ist, worin dieser bestehen soll. So gesehen müsste Moskau im Falle einer Großen Koalition zwar weiter mit einer Kanzlerin Merkel auskommen, weiß aber zumindest genau, was es bekommt. Und das ist für den Kreml nicht minder wichtig. Jutta Sommerbauer
USA
Der Blick auf die schwierige Regierungsbildung in Berlin sorgt in den USA für eine sehr seltene Konstellation: Anhänger wie Gegner der traditionellen westlichen Politik sehen die Probleme Angela Merkels nicht als rein deutsches Phänomen, sondern als Entwicklung mit Folgen für ganz Europa. Alle sind sich einig, dass die Kanzlerin, die in den USA angesichts der isolationistischen Sprüche von Donald Trump zur Führerin der westlichen Welt ausgerufen wurde, stark geschwächt ist.
In rechtspopulistischen Medien werden die Schwierigkeiten der Kanzlerin mit Befriedigung registriert. Das Ergebnis der Bundestagswahl sei eine Ohrfeige für das ganze europäische Establishment gewesen, kommentierte die Zeitung „New York Post“ zufrieden. Die „New York Times“ bedauert diese Entwicklung. In einer Zeit, in der Europa angesichts von Brexit, der Trump-Präsidentschaft und anderer Herausforderungen ein starkes Deutschland brauche, stehe jetzt eine „Phase größerer Unsicherheit bevor“. Einige sehen das Ende von Merkels Karriere voraus. Doch das sei kein Grund, von einer Krise zu sprechen, schrieb der Politologe Dan Hough in der „Washington Post“. Das Konsensstreben der Deutschen und eine gut besetzte politische Ersatzbank zur Lösung der Nachfolgefrage seien gute Voraussetzungen dafür, dass das Land die Probleme überwinden werde. Thomas Seibert
China
China wertet die Probleme von Angela Merkel eine neue Regierung zu bilden als weiteren Beleg für die Überlegenheit des eigenen politischen Systems. Bereits die Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten und der Brexit hätten gezeigt, so lautet die Linie der Propaganda, dass demokratische Wahlen den Aufstieg von Populisten begünstigen und gravierende Unsicherheiten mit sich bringen. Die Einparteienherrschaft im Sozialismus mit chinesischen Kennzeichen hingegen sorgt für Stabilität.
„Der jüngste Vorfall zeigt, dass Berlins politisches System, das für seine Stabilität bekannt war, eine neue Phase der Instabilität erreicht hat, in der die Parteien immer weniger gemeinsam haben“, schreibt die staatlich kontrollierte Zeitung „Global Times“. Die staatliche Nachrichtenagentur Xinhua spricht anlässlich des Abbruchs der Jamaika-Verhandlungen sogar von „Merkels Ende und Deutschlands trauriger Zukunft“.
Mit den Problemen demokratischer Staaten scheint in China auch das Selbstbewusstsein für das eigene System zu wachsen. Wie das Berliner China-Forschungsinstitut Merics berichtet, hieß es unlängst in der politiktheoretischen Zeitschrift Qiushi, dass westliche Demokratien eine „geldorientierte Politik und Populismus“ hervorgebracht hätten, wie sie zu anderen Ländern nicht passen. Zugleich habe die Zeitschrift China als die derzeit „größte Demokratie der Welt“ bezeichnet. Benedikt Voigt