Performative Theorie: Sprechende Körper
Prekarität und Neoliberalismus: In ihrem neuen Buch denkt die US-Philosophin Judith Butler über die Politik der Versammlung nach.
Körpersprache. Schöner Begriff, irgendwie selbsterklärend. Kommunikation erschöpft sich nicht in Worten, besagt dieses Wort: Wir artikulieren uns auch, wenn wir tanzen, kämpfen, innehalten, schreien oder schweigen. Damit gilt für sprechende Körper, nicht anders als für unsere Sprache, dass ihr Vokabular entziffert und verstanden werden muss. Was erzählt die wogende Menschenmenge auf dem Tahir-Platz? Welche Wünsche äußern jene, die schweigend die Wall Street okkupieren? Welche politischen Bedingungen ermöglichen (oder verhindern) es, dass sich zwei Frauen in der Öffentlichkeit küssen? Und wie nah ist uns der blutüberströmte Kinderkörper, der uns in den sozialen Medien auf einem Foto entgegentritt? Man ahnt es schon, ganz so selbsterklärend ist all das vielleicht doch nicht.
Judith Butler denkt in Aufsätzen und Vorträgen seit Jahren über diese Fragen nach. Jetzt hat sie – die Philosophie-Professorin aus Berkeley, Adorno-Preisträgerin und gleichermaßen umstrittene wie einflussreiche Ikone der intellektuellen Linken – diese 2012 bis 2014 entstandenen Überlegungen in einem Buch zusammengetragen: „Anmerkungen zu einer performativen Theorie der Versammlung“.
"Wir sind noch hier, wir harren aus."
Ihren Ruf als Körperhermeneutin dürfte Butler damit endgültig besiegeln. Schon in ihren weltweit rezipierten Studien „Das Unbehagen der Geschlechter“, „Körper von Gewicht“ und „Hass spricht“ hat Butler die rhetorische Verfasstheit unserer körperlichen und geschlechtlichen Identität untersucht. Jetzt geht es ihr spezifisch darum, welche politische Kraft versammelte Körper entfalten können: Wie werden Streiks, Mahnwachen, Besetzungen zur Infragestellung des politischen Status quo? Die körperliche Versammlung im öffentlichen Raum sei, so Butler, ein „Bedeutungsmodus“. Die Menschenmenge „persistiert“, sie sagt: „Wir sind noch hier, wir harren aus.“ Zentral ist das gemeinschaftliche Moment. Nicht der Körper an sich sei schon eine Aussage, sondern die politische Handlung erwachse aus dem „Zwischen“ der sich versammelnden, eine Allianz bildenden Körper, die damit wiederum ihre Teilhabe am Politischen sichtbar machen.
Wir bilden eine Gemeinschaft, gerade mit jenen, deren Körper uns fern sind
Butler folgt hier ihrer in der Vergangenheit bereits mit Blick auf den Israel-Palästina-Konflikt entwickelten „Ethik der Kohabitation“. Eine ethische Verpflichtung gegenüber anderen Menschen dürfe nicht in den Grenzen identitärer, nationaler, sprachlicher oder religiöser Gemeinschaften gedacht werden. Sie setze sich vielmehr in einer Umkehrung von „Nähe und Distanz“ ins Recht, argumentiert Butler: Wir bilden eine Gemeinschaft gerade mit jenen, deren Körper uns fern sind, aber heute medial vermittelt auf den Leib rücken. Bilder von Krieg und Leid, aber auch von politischen Versammlungen in anderen Ländern wirken auf uns wie eine „ethische Bitte“. Die sozialen Medien fungieren hier als eine Art visuelle und ethische Brücke für unser globales Zwangsbündnis mit anderen Menschen, deren körperliche Verfasstheit sich beharrlich in unser Sichtfeld schiebt und eine geteilte politische Sphäre schafft. Butler bezeichnet dies als „strukturelle Paranoia des Bildes“: Es macht uns die überall auf der Welt versammelten und versehrten Körper als Teil unseres Selbst spüren, obwohl sie abwesend sind.
Das Überleben wird dem Einzelnen aufgebürdert, schreibt Butler
Butler kreist um zwei Begriffe, mit denen sie sämtliche Körperversammlungen deutet: Prekarität und Neoliberalismus. Letzterer tritt als dominierende Gesellschaftsordnung des 21. Jahrhunderts in den Blick. Die „neoliberale Ökonomie“ strukturiere öffentliche Institutionen wie Schule und Universität, sie richte den Arbeitsmarkt zu und kannibalisiere den Sozialstaat, die Gesundheitsversorgung, die Rente. Der Neoliberalismus (über dessen Freiheitsmöglichkeiten doch zumindest nachgedacht werden müsste) unterminiert in Butlers Lesart das Prinzip der gegenseitigen Verantwortung einer Weltgemeinschaft, weil er das Überleben, Glück und das „richtige Leben“ (Adorno) einzig den Anstrengungen des Einzelnen aufbürdet.
Eben dies versetze die Menschen in einen akuten Zustand der Prekarität. Gehen sie dagegen auf die Straße und praktizieren sie ihr – in vielen Ländern auch konstitutionell verbürgtes – „Recht zu erscheinen“, so materialisiere sich darin ihre „körperliche Forderung nach besseren Lebensbedingungen“. Die gemeinschaftlich agierenden Körper werden zu „Vektoren der Macht“, die die hochgezüchtete Individualisierung des Neoliberalismus gleichsam einschmelzen.
"Prekarität bringt unsere Sozialität ans Licht"
Prekarität sei durchaus „ungleich verteilt“, schreibt Butler, insofern etwa Kindersterblichkeit nicht alle Länder gleich betreffe oder „Frauen, Queers, Trans-Personen, Arme, anders Begabte, Staatenlose, aber auch religiöse und ethnische Minderheiten“ besonders gefährdet seien. Aber auch generell sei der „prekären Dimension des Soziallebens“ nicht zu entkommen. Allerdings begründe diese Prekarität zugleich unser aller Fähigkeit zur Solidarität: „Prekarität bringt unsere Sozialität ans Licht, die fragilen und notwendigen Aspekte unserer wechselseitigen Abhängigkeit.“
Butler grenzt sich deutlich von sämtlichen Formen der Gewalt ab: „Ich bin der festen Überzeugung, dass Versammlungen dieser Art nur erfolgreich sein können, wenn sie sich zu den Grundsätzen der Gewaltlosigkeit bekennen.“ Das gemeinsame Innehalten wird in dieser Lesart zur wirkmächtigsten Form des politischen Aktivismus.
Butlers Plädoyer gegen den aggressiven „Mob“ ist aus ihrer Sicht die hinreichende Antwort auf die Frage, was eigentlich diese von jener Versammlung unterscheidet. Aber lässt sich nicht auch Pegida, lassen sich nicht überhaupt protektionistische Abschottungen national Identitärer als Artikulationen gegen eine als prekär empfundene Weltordnung begreifen? Welche Versammlung entfaltet denn nun wirklich eine friedensstiftende Kraft? Die komplexen Verwicklungen gegenwärtiger politischer Artikulationsformen kann Butler mit den allzu großen Containerbegriffen „Neoliberalismus“ und „Prekarität“ nicht auflösen.
Butler spricht von "Kampf" - eine behutsame Sprache wäre angemessener
Dass sie stellenweise ihrerseits rhetorisch aufrüstet und immer wieder vom „Kampf“ spricht, ist beunruhigend. Butler betont in ihrem gesamten Werk, dass Sprache verletzen kann. Das bedeutet aber, dass ein „Kampf“, sei er niedergeschrieben oder in körperlicher Formierung auf die Straße gebracht, nicht jenen „radikaldemokratischen Wandel“ einleiten kann, den Butler anstrebt. Ein Wandel, der die Menschen der Gefährdung entreißt und sie zu globaler Kohabitation befähigt, müsste von Philosophinnen und Philosophen mit einem anderen Vokabular entworfen werden. Mit einer behutsamen Sprache und Körperpolitik, die Donald Trump, Recep Tayyip Erdogan, Marine Le Pen, Wladimir Putin und Baschar al Assad sich weigern zu verwenden.
Judith Butler: Anmerkungen zu einer performativen Politik der Versammlung. Aus dem Amerikanischen von Frank Born, Suhrkamp 2016, 312 S., 28 Euro.
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