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Wieder zu Hause. Doch wer nach Kobane zurückkehrt, riskiert sein Leben.
© Bulent Kilic/AFP

Kobane: Alltag mit Sprengfallen und Blindgängern

Den Angriff des "Islamischen Staats" konnten die kurdischen Verteidiger abwehren. Doch die syrische Stadt Kobane gleicht schon lange einem Minenfeld.

Wer in Kobane lebt oder dorthin zurückkehren will, muss um sein Leben fürchten. Das liegt zum einen an den Versuchen des "Islamischen Staats", die symbolträchtige nordsyrische Stadt zurückzuerobern. Den jüngsten Angriff konnten die kurdischen Verteidiger zwar abwehren, doch bei der Offensive der Terroristen starben vermutlich bis zu 200 Zivilisten.

Zum anderen geht immense Gefahr von den militärischen Überresten der großen Schlacht um Kobane aus, die im Januar nach vier Monaten mit der Vertreibung der Dschihadisten endete. Denn der Ort mit seinen einst 60.000 Einwohnern ist offenbar übersät mit Munition und Sprengkörpern, die nicht explodiert sind. Überall gibt es Blindgänger, die jederzeit Menschen in den Tod reißen könnten. Die sieben Quadratkilometer große Stadt gleicht einem Minenfeld.

Das geht aus einem Bericht von "Handicap International" hervor. Im Frühjahr war ein Team der Hilfsorganisation an Ort und Stelle. Und der Befund der Experten macht deutlich, wie bedrohlich der Alltag in der ohnehin weitgehend zerstörten Stadt ist. "Was unsere Fachleute gesehen haben, übertraf unsere schlimmsten Albträume", sagt Frédéric Maio, Programm-Manager für humanitäre Minenaktion bei Handicap International. "Die Kontaminierung mit nicht explodierten Waffen aller Art hat eine Dichte und Vielfalt erreicht, die es so noch kaum gab."

1000 Bombenkrater

Vier Monate dauerte die erste Schlacht um Kobane. Erst dann gelang es den kurdischen Bodentruppen, die Stadt einzunehmen. Eine Allianz unter Führung der USA hatte die Einheiten dabei mit massiven Luftschlägen unterstützt. Mehr als 700 Angriffe flog die Anti-IS-Koalition. 200 bis 1000 Kilogramm schwere Bomben wurden dabei abgeworfen. Die Mitarbeiter von Handicap International zählten bei ihrem Rundgang durch die Trümmerlandschaft 1000 Krater, manche mit zehn Metern Durchmesser. Im Zentrum fanden sie zehn Munitionsteile – pro Quadratmeter.Verwüstet haben die Stadt zudem schätzungsweise 40 Autobomben.

Doch die sichtbare Zerstörung ist nur das eine. Das andere sind die industriell wie selbst gefertigten Handgranaten, Mörsergeschosse und Raketen, die unter den eingestürzten Häusern verschüttet wurden. Sie können jederzeit in die Luft gehen und immensen Schaden anrichten. Laut Maio sind vor allem Kinder gefährdet, die in den Ruinen spielen und womöglich neugierig mit den Geschossen hantieren. Und wenn unkundige Eltern versuchen, die hochexplosiven Gegenstände vorsichtshalber selbst zu entsorgen, riskieren sie ihr Leben.

Sprengfallen in Leichen

Eine besondere Gefahr geht zudem von Sprengfallen aus. Bei ihren Erkundungsgängen entdeckten die Mitarbeiter von Handicap zahlreiche dieser mörderischen Waffen. Sie sind so konstruiert worden, dass sie lange Zeit scharf bleiben. Und man hat die Sprengfallen – oft mit Splittern gefüllt – an Möbeln, Türen und Fenstern befestigt. Nicht selten wurden sie in Traktoren oder im Wasserversorgungssystem deponiert. Noch perfider: Viele Sprengfallen sind in enthaupteten Leichen versteckt. Mit 20 Kilogramm explosivem Material und 500 Stahlkugeln gefüllt, dienen sie als improvisierte Splitterbomben und explodieren bei der kleinsten Berührung. Die Frage, wer dafür verantwortlich ist, wird in dem Bericht nicht beantwortet. Allerdings gehen Terrorismusexperten davon aus, dass der "Islamische Staat" hinter dieser Art Kriegsführung steckt.

Gefährliche Hinterlassenschaft. In der ganze Stadt gibt es explosive Geschosse, die jederzeit in die Luft fliegen könnten.
Gefährliche Hinterlassenschaft. In der ganze Stadt gibt es explosive Geschosse, die jederzeit in die Luft fliegen könnten.
© Philippe Houliat/Handicap International

"Die Blindgänger und Sprengfallen sind für die Menschen eine tägliche Bedrohung", sagt Maio. "Sie machen es den Familien unmöglich, ihr Leben wieder aufzubauen und erschweren die Arbeit der verschiedenen Hilfswerke." Deshalb fordert Handicap International sofortige Maßnahmen zum Schutz der Bevölkerung. Dazu gehöre die professionelle Beseitigung der Kampfmittel. Erst dann könne damit begonnen werden, die Häuser wieder aufzubauen.

Dringend erforderlich sind nach Überzeugung der Experten ebenfalls Schulungen örtlicher Kräfte und die Aufklärung der Einwohner. Doch davon ist bislang kaum die Rede. Also müssen die Menschen weiter um ihr Leben fürchten – egal ob die Extremisten des IS angreifen oder sich wieder zurückziehen.

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