Parteitag der Grünen: "Alles, wofür wir hier kämpfen und streiten, ist größer als wir selbst“
Cem Özdemir ist der beliebteste Grünen-Politiker. Mit Riesenapplaus hat ihn der Parteitag als Chef verabschiedet. Aber er hielt noch eine Botschaft bereit für seine Partei.
Cem Özdemir steht auf Bühne, er genießt die Standing Ovations zum Abschied. Mehr als neun Jahre war er Parteichef der Grünen, länger als jeder seiner Vorgänger. „Dass jemand wie ich mit meiner Herkunft und Geschichte mal an der Spitze einer deutschen Partei stehen würde, ist immer noch keine Selbstverständlichkeit, leider auch 2018 nicht“, sagt Özdemir. „Es war mir eine Ehre.“
Im Herbst 2008 war der Sohn türkischer Gastarbeiter zum Grünen-Chef gewählt worden. Nun hat er beschlossen, dieses Amt an Nachfolger abzugeben. Auch seine Co-Vorsitzende, Simone Peter, hört nach vier Jahren auf.
Die Grünen stehen vor einem personellen Neuanfang. Auf dem Parteitag in Hannover soll an diesem Wochenende die gesamte Spitze neu besetzt werden. Doch laut Parteitagsregie steht die Wahl der Neuen erst an diesem Samstag auf dem Programm. Zeit also für ein paar sentimentale Momente zum Beginn des Parteitags, bevor am späten Abend dann die Satzungsdebatten anstehen, die dem Kieler Umweltminister Robert Habeck den Weg als Nachfolger Özdemirs frei machen sollen.
Özdemir verabschiedet sich mit einer nachdenklichen Rede von den mehr als 800 Delegierten in der Kongresshalle in Hannover. „Vergesst nicht: Alles, wofür wir hier kämpfen und streiten, ist größer als wir selbst“, sagt er am Ende seiner Rede.
Seiner Partei gibt er einen Auftrag mit auf den Weg: Was die Grünen erfolgreich beim Atomausstieg geschafft hätten, müssten sie nun auch bei anderen Themen schaffen. „Hier muss der Ort sein, wo wir die großen Fragen diskutieren“, fordert Özdemir. Etwa, ob man in Zeiten der Digitalisierung und Automatisierung eine Robotersteuer brauche. Oder ob man für mehr Chancengerechtigkeit eine radikale Stärkung der öffentlichen Bildungsinstitutionen benötige.
Mit Stolz blickt Özdemir auf die Jamaika-Sondierungen zurück. Die Grünen hätten in dieser Zeit ihre Positionen geschärft, weil sie hätten nachweisen müssen, dass diese umsetzbar seien. „Die Alternative heißt nicht Opposition und Regierung im Wartestand, wir müssen beides sein“, mahnt er. Eine Botschaft auch an seinen früheren Rivalen, den Parteilinken Jürgen Trittin, der die Grünen vor dem Parteitag aufgefordert hatte, wieder stärker auf Opposition zu setzen. Özdemir stellt sich die Positionierung seiner Partei hingegen so vor: „Die Grünen sind Kraft der linken Mitte. Aber die Türen sind weit offen.“
Die Partei dankt ihm
Die Delegierten wissen, dass Özdemir einen erheblichen Anteil daran hat, dass die Grünen in den letzten Monaten in der Bevölkerung an Ansehen gewonnen haben. Er selbst ist in den letzten Monaten in den Umfragen zum beliebtesten Grünen-Politiker aufgestiegen. Die Partei dankt es ihm an diesem Abend mit einem kräftigen Applaus.
Auch Winfried Kretschmann setzt in seiner Laudatio zu einem überschwänglichen Lob an: „Mit Cem haben wir ein Ausnahmetalent. Wir werden ihn noch lange brauchen“, sagte der baden-württembergische Ministerpräsident. Er bescheinigt Özdemir die Fähigkeit, auch über das grüne Milieu hinaus Menschen erreichen zu können. „Er will nach draußen wirken“, sagt Kretschmann.
Kretschmann erinnert auch daran, dass Özdemirs Verhältnis zu seiner Partei nicht immer einfach gewesen sei. „Die Partei hat es dir auch nicht immer leicht gemacht, aber du hast deine Partei auch ab und zu geärgert“, sagt er. Etwa dann, als Özdemir sich für Waffenlieferungen an die Kurden im Nordirak aussprach mit der Ansage, den „Islamischen Staat“ könne man „nicht mit der Yogamatte unter dem Arm“ besiegen. Oder als er Daimler-Chef Dieter Zetsche zum Grünen-Parteitag einlud, um mit ihm über die Zukunft der deutschen Automobilindustrie zu streiten. Eine Provokation für manch einen Parteilinken.
Kretschmann hätte es eigentlich gerne gesehen, wenn die Grünen-Bundestagsfraktion Özdemir zu ihrem Vorsitzenden gewählt hätte. Auch Özdemir selbst hätte diese Aufgabe reizvoll gefunden. Doch ihm wurde bald klar, dass er in der Fraktion keine Mehrheit gehabt hätte. Schließlich hätte seine Bewerbung auch bedeutet, dass er wegen des Geschlechter- und Flügelproporzes seine Co-Spitzenkandidatin Katrin Göring-Eckardt und den bisherigen Fraktionschef Anton Hofreiter von ihren Ämtern verdrängt hätte. Am Ende verzichtete er auf eine Kampfkandidatur.
Er hegt keinen Groll
In den vergangenen Wochen hat Özdemir immer wieder betont, dass er deswegen keinen Groll hege. Auch auf dem Parteitag schlägt er versöhnliche Töne an: Er sei oft gefragt worden, ob sein Abschied nicht tragisch sei. Er finde diesen Vergleich jedoch nicht angebracht. „Ich sehe nicht die Züge einer griechischen Tragödie“, beteuert Özdemir.
Was also wird künftig aus Özdemir?
Fraktionschefin Göring-Eckardt hatte Özdemir nach seinem Verzicht auf den Fraktionsvorsitz eine herausragende Rolle versprochen. Sollte er im Bundestag einen Ausschuss-Vorsitz übernehmen wollen, hätte er den ersten Zugriff. Verkehr und Umwelt – das sind die beiden Ausschüsse, welche die Grünen besetzen dürfen, bis Anfang nächster Woche sollen die Personalien geklärt werden. Doch noch ist Özdemir unentschlossen.
In seinen Abschiedsinterviews kündigte Özdemir an, er sehe seine künftige Rolle als eine Art Libero. Und gleichzeitig als Coach für die jüngeren Abgeordneten, die er ermuntern wolle, auch mal gegen den Strom zu schwimmen. Dass er schnell den Absprung aus dem Bundestag sucht, gilt als unwahrscheinlich. Bei der letzten Wahl hatte er in Stuttgart das Direktmandat nur knapp verfehlt. Dieses noch einmal zu versuchen, könnte ihn reizen.
Özdemir selbst jedenfalls sagt am Freitag, er sei zwar in seiner Rolle als Bundesvorsitzender das letzte Mal auf dem Parteitag. „Aber ich bin sicherlich nicht das letzte Mal als Grüner auf einem Parteitag“, verspricht er den Delegierten. Nach den vielen Gremiensitzungen der letzten Jahre freue er sich auch wieder, häufiger in der Partei unterwegs zu sein. „Gerne auch im Wahlkampf“, verspricht Özdemir. Auch wenn er als Parteichef abtritt – aufhören will er noch lange nicht.