Corona wütet weiter in Großbritannien: Allein 1000 Covid-19-Tote in Alten- und Pflegeheimen
Großbritanniens Regierung will jetzt die Patienten und Mitarbeiter aller Pflegeheime testen lassen. Fraglich, ob das möglich ist. Auf der Insel sind Tests Mangelware.
Während in anderen europäischen Ländern erste Schritte aus dem Lockdown diskutiert oder bereits praktiziert werden, steckt Großbritannien weiterhin mitten in der Coronakrise. Weil die Todeszahlen aus Alten- und Pflegeheimen immer alarmierender werden, hat Gesundheitsminister Matthew Hancock jetzt versprochen, sämtliche Bewohner und Bedienstete aller Heime zu testen.
In Abwesenheit von Premierminister Boris Johnson, der sich von seiner schweren Covid-19-Erkrankung erholt, tagte das konservative Kabinett am Donnerstag unter Leitung von Vizepremier Dominic Raab und beschloss die Verlängerung der seit gut drei Wochen andauernden Kontaktsperre um weitere drei Wochen bis in die erste Maiwoche.
Tests auf die Erkrankung Sars-CoV-2 bleiben auf der Insel Mangelware. Unter dem Druck der Öffentlichkeit hatte Hancock zu Monatsbeginn versprochen, bis Ende April würden täglich 100.000 Tests durchgeführt – am Mittwoch lag die Zahl erst bei knapp 16.000.
Allein in Krankenhäusern haben rund eine halbe Million Bedienstete direkten Kontakt mit Covid- 19-Patienten; weil nicht ausreichend Tests zur Verfügung stehen, müssen Ärztinnen und Krankenpfleger bei Symptomen, die auf Corona hindeuten könnten, weiterhin ohne Test in die Selbstisolation, fallen also oft unnötigerweise aus.
Die Situation wirft ein Schlaglicht auf die vernachlässigten Heime
Für die Tests in den Zehntausenden von Altenheimen nannte Hancock keinen Termin. Martin Green von der Lobbygruppe Care England sagte, er sei aber froh, dass sein Sektor endlich auch auf der Tagesordnung stehe. Zahlen des Statistikamtes ONS hatten die Regierung in Zugzwang gebracht: Offenbar sind in Heimen bereits mehr als 1000 Menschen dem Coronavirus erlegen, ohne in die offizielle Statistik einzugehen.
Die täglich von der Regierung gemeldeten Zahlen – am Donnerstag waren es 861 zusätzliche Tote; die Gesamtzahl der Infizierten stieg auf 13.729 – enthält nur Fälle, die in Krankenhäusern des Gesundheitssystems NHS gestorben sind. ONS hingegen zählt die landesweit ausgestellten Totenscheine und prüft, wo Covid-19 als Ursache des Ablebens (mit)vermerkt ist.
Insgesamt lag die Zahl der Verstorbenen in der Woche bis 3. April um 59 Prozent über dem Vorjahreswert. Hingegen waren im Januar und Februar rund 4.500 Briten weniger gestorben als im Durchschnitt der vorhergegangenen fünf Jahre.
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Die traurigen Zustände in Alten- und Pflegeheimen werfen ein Schlaglicht auf einen in Großbritannien sträflich vernachlässigten Sektor: Die Regierungen reden seit rund 15 Jahren von einer Reform der Pflege alter Menschen, ohne diese anzugehen.
Als Johnsons Vorgängerin Theresa May im Wahlkampf 2017 thematisiere, dass sie die Mittelschicht stärker in die Pflicht nehmen wolle, wurde ihre Idee als „Demenzsteuer“ denunziert und von den Torys eilig zurückgezogen. Johnsons Regierung versprach im Dezember die Einberufung einer überparteilichen Arbeitsgruppe; geschehen ist nichts.
Zehntausende von Altenheimen gehören Privatfirmen
Das NHS achtet aus finanziellen Gründen darauf, alte Menschen nach der Akutbehandlung möglichst rasch loszuwerden, dauerhaft Pflegebedürftige bleiben in der Obhut der chronisch unterfinanzierten Kommunen. Zehntausende von Altenheimen gehören Privatfirmen, die ihren häufig schlecht ausgebildeten Angestellten der Lobbyorganisation Skills for Care zufolge durchschnittliche Stundenlöhne von neun Euro und 28 Cent bezahlen.
Oppositionsführer Keir Starmer sagte der Regierung seine Unterstützung für die Verlängerung des Lockdown zu, fordert aber einen baldigen Exit-Plan. Der sei zur Aufrechterhaltung der Moral notwendig, schrieb der Labour-Vorsitzende an Vizepremier Raab: „Die Menschen wollen Licht am Ende des Tunnels sehen.“
Im Namen der Regierung erwiderte Gesundheitsminister Hancock, man dürfe die Briten jetzt nicht durch eine Diskussion darüber verwirren, wie eine Rückkehr zur Normalität gestaltet werden könne. Einer YouGov-Umfrage zufolge sind 68 Prozent der Briten mit dem bisherigen Vorgehen der Regierung in der Krise einverstanden.
Am Grundsatz, den Brexit bis Ende 2020 vollständig zu vollziehen, hält Johnsons Regierung eisern fest – das teilte Chefunterhändler David Frost seinem EU-Kollegen Michel Barnier per Video mit.