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Seine Anhänger sind überall. Mit der Verfassungsänderung soll der türkische Staatspräsident zum Chef der Exekutive werden. Foto: Murad Sezer/Reuters
© REUTERS

Türkei: Alle Macht für Erdogan

Im türkischen Parlament hat die Debatte über das Präsidialsystem begonnen – die Regierung will möglichst rasch abstimmen lassen. In der Nacht zu Dienstag nahm sie eine erste Hürde.

Buhrufe und Pfiffe ertönen, als sich der Wasserwerfer in Marsch setzt und die Menge vom Parlamentseingang zurückdrängt. Tränengasschwaden hängen in der Luft, während sich die Abgeordneten in der Großen Türkischen Nationalversammlung auf die Debatte über die vielleicht weitreichendste Änderung in der Geschichte der Republik vorbereiten. Recep Tayyip Erdogan, der autoritär regierende Präsident, soll endlich seine Verfassung nach Maß erhalten. „Nein zur Diktatur!“ heißt der Aufruf der Anwältekammer in Ankara zum Protestmarsch, den die Polizei am Montagmittag rasch auseinandertreibt. Auch einige Parlamentarier der sozialdemokratischen Opposition sind unter den Demonstranten.

Es ist ein eisiger Tag, der Tiefflug der Lira hat wieder begonnen, gleichsam als drohendes Vorzeichen des Untergangs der Republik, so sehen es die Erdogan- Gegner. Die Marke von vier Lira für einen Euro und 3,80 für den Dollar sind in Reichweite.

Erdogan wird noch mehr Macht haben als Atatürk, damals in den 20er und 30er Jahren des vergangenen Jahrhunderts, warnen die Gegner der Verfassungsänderung. Mustafa Sentop wischt das schnell beiseite. „Das macht keinen Sinn“, sagt der Jura-Professor und Vorsitzende des Verfassungsausschusses, einer von Erdogans nützlichsten Helfern im Parlament: „Atatürk hatte wohl keinen Mercedes und kein Flugzeug zur Verfügung. Die Türkei ändert sich, die Welt ändert sich.“

Mit der Verfassungsänderung wird der türkische Staatspräsident zum Chef der Exekutive. Das Amt des Ministerpräsidenten wird abgeschafft. Seine Minister soll Erdogan künftig selbst ernennen und entlassen können, das Parlament hat keine Kontrolle mehr über die Regierung. Vertrauensabstimmung oder Misstrauensantrag sind nicht vorgesehen. Der Präsident kann per Dekret regieren, die Hürde für ein Amtsenthebungsverfahren – die ultimative Waffe des Parlaments – ist hoch: Zwei Drittel der Abgeordneten müssen zustimmen, das Verfassungsgericht entscheidet. Doch einen Teil der Richter ernennt Erdogan auch.

Parlament stimmt Debatte über Verfassungsänderung zu

Die Verfassungsänderungen müssen nun zunächst durchs Parlament. Ende nächster Woche soll die erste Abstimmung sein, so plant es Erdogans regierende konservativ-islamische AKP. Doch die Opposition versuchte das Verfahren mit einer Flut von Anträgen hinauszuzögern. In der Nacht zu Dienstag konnte Erdogan einen ersten Erfolg verbuchen: Das Parlament in Ankara stimmte dafür, die Debatte über die Verfassungsreform zuzulassen, wie die staatliche Nachrichtenagentur Anadolu meldete. Demnach sprachen sich 338 von anwesenden 480 Abgeordneten dafür aus. Mindestens 330 Stimmen brauchte die AKP für die Abstimmung, 14 mehr, als sie hat.

Im nächsten Schritt wird über jeden der 18 Artikel in der Reform einzeln beraten und abgestimmt. In zwei Runden kommt es dort voraussichtlich über die Dauer von rund zwei Wochen zu Beratungen und zu mehreren Abstimmungen. Zum Schluss folgt die letzte Abstimmung im Parlament über das Gesamtpaket. Dieses besteht aus allen Artikeln, die in den vorherigen Einzelabstimmungen die jeweils notwendige Dreifünftel-Mehrheit erzielten. Auch beim Gesamtpaket gilt: Mindestens 330 der 550 Abgeordneten müssen mit Ja stimmen. Ist die Verfassungsänderung angenommen, wird sie den Türken zum Entscheid vorgelegt. Das Referendum könnte Anfang April stattfinden, gab einer der Vize-Ministerpräsidenten an.

Erdogans Berater verteidigen die Verfassungsänderung und weisen unter anderem auf die neue Verknüpfung von Präsidenten- und Parlamentswahl hin. Nutze der Präsident etwa sein Recht, das Parlament vorzeitig aufzulösen, weil er der Ansicht ist, nicht länger mit dem Abgeordnetenhaus zusammenarbeiten zu können, erklärte Sükrü Karatepe, einer der Chefberater, dann beende auch der Präsident automatisch seine Amtszeit. Das Parlament habe sogar mehr Macht als der Präsident, argumentierte Karatepe, weil es Gesetze, gegen die der Staatschef sein Veto eingelegt hat, mit absoluter Mehrheit annehmen könne. In den USA sei dagegen eine Zweidrittel-Mehrheit erforderlich.

Vergrößerung des Parlaments: Vorteil AKP?

Die Sache hat allerdings einen Haken: Die Verfassungsänderung sieht auch eine Vergrößerung des Parlaments vor. 50 Abgeordnete mehr soll die Nationalversammlung künftig haben – 600 statt bisher 550 Sitze. Gleichzeitig bleibt die enorm hohe Sperrklausel von zehn Prozent für den Einzug ins Parlament. Nach Ansicht von Opposition und Wahlexperten zementiert diese Konstruktion nur die absolute Mehrheit der AKP. Die hält Erdogans Partei mit einer kurzen Unterbrechung schon seit 14 Jahren: Als die AKP im Juni 2015 die absolute Mehrheit verlor, setzte Erdogan eine „Wiederholung“ der Parlamentswahl fünf Monate später durch. Danach stimmte das Ergebnis wieder für den starken Mann der Türkei.

Die Erdogan-Verfassung wird ab 2019 gelten, eine Art Ermächtigungsgesetz soll dem Präsidenten der Türkei bis dahin übergangsweise die neuen Vollmachten der Verfassung sichern. Die Möglichkeit für eine dritte Amtszeit Erdogans bis 2029 enthält die Verfassungsänderung auch. Und sie gibt ihm die Möglichkeit, die Pflicht der Überparteilichkeit als Präsident loszuwerden und endlich wieder Chef der von ihm gegründeten AKP zu werden. Der Weg in den Einparteien-Staat, warnt der sozialdemokratische Oppositionsführer Kemal Kiliçdaroglu. (mit dpa)

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