Krieg in Syrien: Aleppo - die Stadt des Horrors
In Aleppo sind Hunderttausende Geiseln in einem brutal geführten Krieg. Das Elend könnte größer kaum sein, die Lage scheint aussichtlos. Eine Analyse.
An deutlichen Worten herrscht kein Mangel. Der Kampf um Aleppo ist „zweifellos einer der verheerendsten städtischen Konflikte der Neuzeit“, sagt Peter Maurer. Und der Präsident des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz betont: „Das Ausmaß des Leidens ist immens.“ Auch UN-Nothilfekoordinator Stephen O’Brien ist alarmiert. In dem seit mehr als fünf Jahren andauernden Krieg in Syrien sei die geschundene nordsyrische Stadt der „Gipfel des Horrors“.
Doch auch wenn die Welt nach Aleppo zu schauen scheint: Es ändert nichts am Elend der Menschen. Hunderttausende Einwohner, mehrheitlich Zivilisten, sind von der Versorgung mit Lebensmitteln, Trinkwasser, Strom und Medikamenten weitgehend abgeschnitten. Die von Moskau und Syriens Machthaber Baschar al Assad in Aussicht gestellte Waffenruhe für die Dauer von 48 Stunden pro Woche lässt auf sich warten. Stattdessen gehen die Luftangriffe auf den von Aufständischen kontrollierten Ostteil der einstigen Handelsmetropole weiter. Die Rebellen antworten mit Mörserattacken auf den vom Regime gehaltenen Westteil.
Warum ist Aleppo so heftig umkämpft?
Die einst größte Stadt Syriens ist auf dramatische Weise längst zu einer Art Mikrokosmos des Bürgerkrieges geworden. Dort treffen fast alle Konfliktparteien aufeinander und versuchen, kompromisslos und brutal, ihre Interessen durchzusetzen. Aleppo ist zu einem Symbol für das Drama des gesamten, auseinanderbrechenden Landes geworden – militärisch, politisch und ideologisch. Für alle Seiten steht viel auf dem Spiel. Gelingt es Assad, die ganze Stadt wieder unter Kontrolle zu bekommen, wäre es seit Jahren sein größter Erfolg. Freilich einer, der ohne massive russische und iranische Hilfe kaum denkbar gewesen wäre.
Für die Aufständischen wäre der Verlust ihrer Hochburg ihre empfindlichste Niederlage. Und die folgenreichste. Was könnten sie dem Regime bei Friedensgesprächen noch entgegensetzen? Selbst moderate Kämpfer würden sich – enttäuscht von der mangelnden Unterstützung des Westens – radikalisieren und den Islamisten anschließen. Hinzu kommt, dass Aleppo mit seiner Nähe zur Türkei von großer geostrategischer und wirtschaftlicher Bedeutung ist. Die Stadt liegt im ölreichen Norden, die Region gilt als eine Kornkammer des Landes.
Wer sind die Gegner?
Wie in ganz Syrien gibt es auch in der Schlacht um Aleppo verschiedene Gruppen, die sich gegenüberstehen. Dabei passiert es immer wieder, dass Bündnisse ebenso rasch geschlossen wie aufgekündigt werden. Die zentrale Front verläuft zwischen dem Regime und den Aufständischen. Seit Jahren versucht Assad, die Stadt komplett zurückzuerobern. Doch erst, nachdem Russland im September 2015 in den Syrienkrieg eingegriffen hatte, konnte der Machthaber eine neue Offensive in Aleppo beginnen. Seitdem lässt Moskau Angriffe auf Rebellen-Viertel fliegen. Am Boden wird das Regime in erster Linie vom Iran unterstützt. Mit Teherans Segen, Geld und Waffen sind schiitische Milizen wie die Hisbollah der wichtigste Garant für das Gelingen des militärischen Vormarschs.
Diesen gut gerüsteten Regierungs-Einheiten stehen die Aufständischen gegenüber. Als gemäßigt geltende Brigaden haben sich mit verschiedenen Islamisten-Gruppen verbündet. Oft geben die Dschihadisten den Kurs vor. Allein ihre Schlagkraft hat das Überleben bisher gesichert. Unter den Kämpfern befinden sich allerdings sehr viele Mitglieder von Terrorgruppen wie der Al Qaida nahestehenden Nusra-Front, die sich vor Kurzem vermutlich aus taktischen Gründen in „Front für die Eroberung Syriens“ umbenannt hat. Die Dschihadisten vom „Islamischen Staat“ (IS) spielen in der Schlacht um Aleppo nur eine untergeordnete Rolle.
Dagegen ist die Kurdenmiliz YPG in Aleppo präsent. Sie kontrolliert vor allem den Stadtteil Sheikh Maqsoud. Lange Zeit hatten sich die Kurden mit dem Assad-Regime weitgehend arrangiert und es teilweise sogar militärisch unterstützt. Sie halfen zum Beispiel, die Rebellen von ihrem letzten noch verbliebenen Versorgungsweg abzuschneiden. Doch Berichten zufolge haben die kurdischen „Volksverteidigungseinheiten“ vor wenigen Tagen Nachschubrouten der Regierung in den Westen der Stadt attackiert – vermutlich eine Reaktion darauf, dass Assad erstmals kurdische Stellungen in der nordsyrischen Stadt Hasaka angreifen ließ.
Wie groß ist die Not der Einwohner?
Tausendfacher Tod und unsägliches Leid: Das weitgehend zerstörte Aleppo ist zum Synonym für das Grauen des Bürgerkriegs geworden. „Hier lebt man wie in einem großen Gefängnis“, sagte Franziskanerpriester Firas Lufti vor wenigen Tagen der Nachrichtenagentur KNA. Er harrt dennoch aus, um den Menschen in ihrer Not zu helfen. Und die ist eigentlich unvorstellbar.
Es mangelt an allem: Trinkwasser, Lebensmittel, Medikamente und ärztliche Hilfe. Im Ostteil gibt es nur noch einige wenige Mediziner. Kliniken werden immer wieder beschossen, teilweise mit weltweit geächteten Waffen. Streubomben werden ebenso genutzt wie Fassbomben – vom Regime und seinen Verbündeten. Auch Napalm und Chlorgas sollen eingesetzt worden sein. Die Opfer: zumeist Zivilisten. Für die Überlebenden bedeutet die Schlacht um Aleppo ein Leben in ständiger Angst.
Welche Hilfe kann unter den herrschenden Kriegsbedingungen geleistet werden?
Aleppo ist nicht nur heftig umkämpft, sondern weitgehend eingekesselt. Mitte Juli gelang es Einheiten des Regimes mit Unterstützung der libanesischen Hisbollah, anderen schiitischen Milizen und der russischen Luftwaffe den letzten offenen Nachschubweg der Rebellen zu erobern. Der Ostteil der Stadt war damit von der Außenwelt abgeschnitten. Anfang August starteten vor allem sunnitische Kämpfer eine Gegenoffensive. Dabei gelang es ihnen zwar, einen neuen Korridor im Südwesten Aleppos zu schaffen. Doch von einer echten Kontrolle kann bisher keine Rede sein.
Vor einigen Wochen haben Moskau und Damaskus den Einwohnern angeboten, die Stadt über sogenannte Fluchtkorridore zu verlassen. Doch diese Möglichkeit wurde kaum genutzt. Zu groß war das Misstrauen der Menschen, sie könnten für Assads Truppen zur Zielscheibe werden. Außerdem gab es Berichte, dass die Rebellengruppen das Verlassen der Stadt verhindert haben. Die Vereinten Nationen hatten ohnehin moniert, dass es ihnen obliege, die Menschen in Sicherheit zu bringen und zu versorgen.
Vor wenigen Tagen dann erklärte sich Moskau bereit, unter bestimmten Umständen einer 48-stündigen Waffenruhe zuzustimmen. Doch die Feuerpause lässt weiter auf sich warten. Dabei wären die UN nach eigenen Angaben sofort in der Lage, Hilfsgüter vor allem in den belagerten Ostteil der Stadt zu liefern. 50 Lastwagen mit Lebensmitteln, Wasser und Medikamenten stünden bereit.
Sollte eine Feuerpause zustande kommen, dann dient sie nach Einschätzung von Petra Becker, Expertin der Stiftung Wissenschaft und Politik für Syrien, vor allem einem Ziel: „Die Menschen sollen die Zeit nutzen, um aus der Stadt zu fliehen. Doch gerade Zivilisten, die im von den Aufständischen gehaltenen Osten Aleppos leben, werden ihre Heimat kaum verlassen – es ist einfach zu riskant.“ Zum einen, weil sie fürchten müssen, vom Regime als mögliche Komplizen der Rebellen abgestempelt und entsprechend behandelt zu werden. Nach der Einnahme der Stadt Homs 2014 wurden Berichten von Menschenrechtlern zufolge viele Männer festgenommen. Dutzende, wenn nicht Hunderte sind bis heute nicht wieder aufgetaucht.
Zum anderen gibt es ohnehin in Aleppos Umgebung keine sicheren Rückzugsgebiete. „Fast überall wird gekämpft“, sagt Becker. Um den Menschen in Aleppo zu helfen, müsse deshalb auch über eine Luftbrücke nachgedacht werden. „Es darf nicht sein, dass der regimekontrollierte Westteil der Stadt Hilfe erhält, während im Ostteil Menschen verhungern.“ In diesem Fall mache sich die Internationale Gemeinschaft der Beteiligung an einem Kriegsverbrechen schuldig. Für Becker steht zudem fest: „Eine Luftbrücke darf nicht von der Zustimmung des Regimes abhängig sein und muss deshalb notfalls militärisch durchgesetzt werden.“ Doch davor schreckten die USA und ihre Verbündeten zurück. Auch Hilfsorganisationen sehen in einer Versorgung der Menschen aus der Luft nur die allerletzte Möglichkeit. Es braucht vielmehr – da ist man sich einig – dringend eine Waffenruhe.
Christian Böhme