Essay: „Wutbürger“ - Mitte ohne Maß
Es ist das Überraschungs-Comeback des Jahres: Das Bürgertum mischt nach Jahren der introvertierten Politikverdrossenheit plötzlich wieder lautstark mit im gesellschaftlichen Diskurs.
Besitzstandswahrung statt Solidarität: Wie ein zunehmend aggressives Bürgertum sich vom Sozialstaat abwendet.
Das Bürgertum geht monatelang in Stuttgart auf die Straße, um seinen Unmut über den Abriss eines trutzigen Bahnhofs und Vorzeigewerks der traditionalistischen Architektur zum Ausdruck zu bringen. Es kippt per Volksentscheid eine Schulreform, die das gute alte Gymnasium infrage stellt, und läutet in Hamburg das Ende der schwarz-grünen Regierungskoalition ein. Es macht die Kampfschrift eines ehemaligen Berliner Finanzsenators zum erfolgreichsten deutschen Sachbuch der Nachkriegszeit und brüllt die Opponenten des Autors auf Podiumsdiskussionen gnadenlos nieder.
Als „Wutbürger“ hat Dirk Kurbjuweit die Protagonisten dieser Bewegung im „Spiegel“ treffend bezeichnet. Sie seien „konservativ, wohlhabend und nicht mehr jung“, schauten nur auf sich und hätten weder die Zukunft ihrer Städte noch ihre Verantwortung für die Demokratie im Blick. Außerdem ließen sie traditionell bürgerliche Tugenden wie Gelassenheit und Contenance vermissen.
Nun existiert ein Buddenbrook’sches Bürgertum, das über gehobene Bildung und gehobelte Umgangsformen verfügt, ohnehin kaum noch. Der Begriff des Bürgertums hat sich nicht zuletzt durch den Einfluss der Popkultur und der Emanzipationsbewegungen der sechziger Jahre derart geweitet, dass ihm mittlerweile Beliebigkeit anhaftet. Bürgerlichsein ist zu einem „Lifestyle unter vielen“ (Jens Bisky) geworden. Man braucht keine entsprechende Familientradition oder Klassikerkenntnis mehr, um dazuzugehören. Es genügt, auf die richtige Kleidung, eine geschmackvolle Wohnungseinrichtung und stilsichere Weinauswahl zu achten.
Bürgerlichkeit ist eine Marke geworden, die man kaufen kann. Sie hat allerdings ihren Preis, womit wir beim einzigen nicht verhandelbaren Zugangskriterium wären: dem Einkommen und dem Vermögen. Es bildet die letzte große Gemeinsamkeit der Bürgerlichen, die man vielleicht trefflicher als Besserverdienende oder Wohlhabende bezeichnen sollte. Das klingt natürlich weit weniger edel und macht deutlich, was die Wutbürger eigentlich umtreibt: die Sorge um ihr Geld als Garant für Komfort, für die so vehement verteidigten Statussymbole und Privilegien sowie für die Chancen ihrer Kinder, über all das einmal in ähnlichem Maß verfügen zu können. Es geht um Besitzstandswahrung: Hinter der Verteidigung des Symbolischen (der Architektur der Gründerzeit, der Nachkriegsbauten in Köln, Bonn oder Hannover) steckt die Verteidigung der materiellen Werte. Die sogenannte Leitkultur oder gar die Demokratie samt Bürgernähe, auf die man sich bei den Protesten und Bürgerbegehren gerne beruft, ist da nur Argumentationshilfe.
Dass ökonomische Prioritäten gesetzt werden, ist in einer vom globalisierten Kapitalismus geprägten Welt nur konsequent. Die Gut- und Besserverdienenden sehen ihren wirtschaftlichen Erfolg schon länger bedroht, Abstiegspanik und Prekarisierung der Mittelschicht sind die viel diskutierten Stichworte. Seit der Finanzkrise sind die Angst und die Verunsicherung größer geworden.
Die neue Aggressivität stellt das System des solidarischen Sozialstaats infrage. Von einer „zunehmend rohen Bürgerlichkeit“ spricht der Bielefelder Soziologe Wilhelm Heitmeyer, der in der jüngsten Auflage der Langzeitstudie zur „Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit“ auch zu dem Ergebnis kommt, dass „die Verteidigung von Privilegien mit der Stigmatisierung schwacher Gruppen einhergeht. Negative Stereotype wie die vom ,faulen Arbeitslosen’ oder vom ,Ausländer’, der den ,Sozialstaat belastet’, werden zur Legitimation verweigerter Unterstützung herangezogen“. Die fremdenfeindlichen Einstellungen sind in der oberen Einkommensgruppe (ab 2598 Euro) 2010 signifikant gestiegen.
Die repräsentative Befragung fand Monate vor der Veröffentlichung von Thilo Sarrazins „Deutschland schafft sich ab“ statt. Das umstrittene Buch spiegelt also lange bestehende, erschreckend weit verbreitete Ressentiments. Sarrazin kommt den Wutbürgern auch insofern zupass, als er immer wieder auf die quasi natürliche Überlegenheit der sogenannten bildungsnahen Kreise hinweist. Das Potenzial der Unterschicht sei aufgrund vererbter niedriger Intelligenz und des kulturellen Hintergrundes (besonders hinderlich: der muslimische) stark begrenzt.
Abgesehen davon, dass Sarrazin viel zu direkt von Intelligenz auf Erfolg schließt und die jahrzehntelange Ausgrenzung seitens der Mehrheitsgesellschaft außer Acht lässt, ziehen seine Thesen perfiderweise in Zweifel, dass eine Förderung der unterprivilegierten Jugend überhaupt etwas zum Guten verändern könnte. Dumm bleibt eben dumm. Und muss auf Distanz gehalten werden: „Die Herstellung von Chancengleichheit muss jedoch dort Grenzen finden, wo sie in eine Benachteiligung der Kinder mit bildungsnaher Herkunft umschlagen würde, etwa indem Anforderungen gesenkt werden, um ein ,Mithalten’ zu ermöglichen.“
So konstruiert Sarrazin einen Opferstatus der Bessergestellten, um von realen Ungerechtigkeiten abzulenken. Im Vergleich mit anderen Industrieländern ist die soziale Mobilität gerade mal durchschnittlich. „Der berufliche Status der Eltern determiniert Bildungserfolge der Kinder“, heißt es in der OECD-Studie „Mehr Ungleichheit trotz Wachstum?“ aus dem Jahr 2009. Kein Wunder, dass die Kluft zwischen Arm und Reich in der Bundesrepublik größer wird.
Solche Gerechtigkeitslücken zu schließen, ist ein staatlicher Auftrag, wie ihn das Grundgesetz in den Artikeln 1 und 20 vorgibt. Der Journalist und Jurist Heribert Prantl erklärt das so: „Der Sozialstaat erschöpft sich nicht in der Fürsorge für Benachteiligte, sondern zielt auf den Abbau der strukturellen Ursachen.“ Und weiter: „Nicht die freie Entfaltung des Kapitals ist das Anliegen der bürgerlichen Freiheitsrechte, sondern die freie Entfaltung der Persönlichkeit jedes Einzelnen.“ Es besteht also ein egalitärer Anspruch. Die deutsche Verfassung sieht eben nicht das amerikanische Prinzip des pursuit of happiness nach der Methode „Jeder ist seines Glückes Schmied“ vor, die mit einer riesigen Schar von Arbeitslosen und Arbeitenden an der Armutsgrenze einhergeht, sondern eine soziale Marktwirtschaft auf solidarischer Basis.
Es ist an der Zeit, dieses Prinzip der Solidarität, einen Grundkonsens unseres Staates, in Erinnerung zu bringen. Denn Teile der unzufriedenen Mittelschicht scheinen sich von diesem Konsens abzuwenden. Ihre Sicht auf den Staat ist zunehmend individualistisch und konsumistisch geprägt: Man zahlt Steuern (natürlich immer zu viel) und möchte dafür bitteschön auch den eigenen Wünschen entsprechende Bildungs- und Infrastrukurprodukte erhalten. Ein Gemeinwesen ist aber kein Supermarkt. Selbstverständlich müssen Schulen und Bahnhöfe vernünftig funktionieren, gehören Missstände angeprangert. Doch die Minderheiten und Schwache zunehmend ausgrenzende Art und Weise, in der das geschieht, ist beängstigend.
Statt juristisch gegen Schulzuweisungen vorzugehen, sich Scheinadressen in „besseren“ Stadtviertel zu besorgen oder Privatschulen aufzubauen, könnten Besserverdienende die Energie, die solche Aktionen kosten, zum Beispiel in Lesepatenschaften an Kitas oder Bürgerbegehren für mehr Sozialarbeiter an Grundschulen umlenken. Wie man Initiativen und Kampagnen organisiert, wissen die Wutbürger ja. Wenn sie wieder ein wenig den Blick vom eigenen Bauchnabel heben und sich gestaltend einbringen, können alle profitieren. Und das Bürgertum bekäme etwas von seinem alten Glanz zurück.