Staat und Gesellschaft: Aktenzeichen „politikverdrossen“
In der Verwaltung begegnen Menschen ihrem Staat. Hier wächst oder erodiert Vertrauen in die Demokratie. Darum müssen Ämter und Behörden (besser) funktionieren. Ein Essay
Klaus Wowereit (SPD) war jahrelang Regierender Bürgermeister dieser Stadt. Viele haben ihn kritisiert, weil er einmal Champagner aus einem Damenschuh trank. Oder sie ärgerten sich, weil er gerne auf den Partys der Hauptstadt abhing. Doch er scheiterte nicht wegen seiner Leidenschaft für Feste. Er scheiterte als oberster Dienstherr. Genauso, wie sein Vorgänger Eberhard Diepgen (CDU) und sein Nachfolger Michael Müller (SPD) gescheitert sind und heute noch versagen.
Berlins Behörden bringen es nicht fertig, einen Flughafen bauen zu lassen und die Baufortschritte korrekt zu beaufsichtigen. Sie sind außerstande, ihren Bürgern in überschaubarer Zeit einen Termin zum Anmelden einer Wohnung oder zum Heiraten zu geben. Jugendämter erklären sich selbst als nur bedingt einsatzbereit und schließen wegen Überlastung tageweise für den Publikumsverkehr. Bauämter arbeiten manchmal derart lange an Anträgen, dass die betroffenen Bauunternehmen zwischendurch ihre Mitarbeiter entlassen.
Das Jammern über die Ämter und Behörden ist mehr als eine Attitüde. Er ist eine Reaktion des Bürgers auf Staatsversagen. Zur Wahl schreitet das Staatsvolk nur alle vier oder fünf Jahre. Auf dem Stimmzettel kann es nur die Bilanz für die Arbeit seiner Repräsentanten ziehen. Dort aber, wo der Bürger seinem Staat täglich begegnet, arbeiten seine Beamten und Angestellten. Hier darf er nicht ständig abgewiesen und vertröstet werden. Hier entsteht das Grundrauschen des politischen Systems – hier wächst oder schwindet das Vertrauen in die Demokratie.
Der US-amerikanische Politikwissenschaftler Francis Fukuyama meint, dass funktionierende Bürokratien für Gesellschaften wichtiger sind als die Häufigkeit und Offenheit von Wahlen, oder die konkrete Ausgestaltung des politischen Systems. Auch das demokratischste Land falle zwangsläufig in die Hände von Cliquen und Warlords, wenn Behörden und Rechtsprechung korrupt und ineffizient sind. Am Beispiel Italiens und Griechenlands kann man das besichtigen.
Arbeiten die Beamten schlecht, tut auch der Bürger nicht, was er soll
Ämter sind mehr als nur Verwaltungsstellen, die hoheitliche Akte erledigen und der Regierung bei der Erfüllung ihrer Aufgaben helfen. Sie sind das Versprechen von Neutralität und Rationalität, von Kompetenz und Unbestechlichkeit. So hat der Soziologe Max Weber die Eigenschaften des Berufsbeamtentums zusammengefasst. Kann man auf sie vertrauen, akzeptiert man auch die Weisungen der Behörden. Man zahlt seine Steuern vollständig und zum Termin, organisiert die Gehwegreinigung ordentlich oder trennt seinen Müll so, wie es das Stadtreinigungsamt vorschreibt. Arbeiten die Beamten hingegen unberechenbar, langsam und schlecht, wendet sich der Bürger ab. Er trickst, schummelt und verliert den Respekt vor der Ordnung des Gemeinwesens.
Ausgerechnet am Geburtsort des preußischen Beamtentums, in Berlin, ist sein Verfall am deutlichsten zu besichtigen. Friedrich Wilhelm I. von Preußen, der Soldatenkönig, hat das Staatsbeamtentum erfunden, um den ineffizienten, verschwenderischen und korrupten Adel zu bändigen. Die Staatsdiener sollten unabhängig von der Politik, objektiv und kompetent agieren. Gut 300 Jahre später wird nicht nur in der deutschen Hauptstadt verzweifelt ein Mittel gesucht, die undurchsichtigen und ineffizienten Behörden des Landes zu ordnen und neu aufzustellen.
Der Niedergang von Behörden beginnt, so schreibt Francis Fukuyama, mit Fehlern, die keiner zugibt. Er setzt sich fort mit der Zersplitterung und Verlagerung der ursprünglichen Aufgabe und der Verantwortung in viele, zum Teil widersprüchliche Ziele. Und er endet, wenn die Behörde von politisch interessierten Truppen vereinnahmt wird.
Auch wo es den Staatsbediensteten gelingt, Recht und Ordnung durchzusetzen, wachsen die Zweifel, ob das künftig weiter so bleiben wird. Diese Zweifel haben eine besorgniserregende Quelle: Denn Parlamente, Bundes- und Länderregierungen übertragen immer mehr Aufgaben an die Behörden und Experten des öffentlichen Dienstes, weil sie selbst nicht mehr in der Lage sind, für komplizierte Fragen eindeutige Entscheidungen zu finden. Nicht nur bei der Registrierung und Unterbringung der Flüchtlinge haben die Behörden Regelungskompetenzen und Ermessensspielräume bekommen, die eigentlich politisch entschieden werden müssten. Auch in vielen anderen Bereichen sollen nun die Beamten und Angestellten Politik gestalten, anstatt die Beschlüsse der Politiker umzusetzen. Nicht nur die Suche nach einem Atommüllendlager wird nun von einer Gesellschaft im Eigentum des Staates angegangen. Für das Stopfen der Löcher auf Deutschlands Fernstraßen soll eine Bundesautobahngesellschaft sorgen.
Bayern wird gut verwaltet - und das zahlt sich aus
Aus großer Macht aber wächst große Verantwortung. Um mit dieser Verantwortung fertigzuwerden und die Schwächen der gewählten Politiker ausgleichen zu können, müssten die Behörden schnell besser werden. Länder mit guten Verwaltungen – wie zum Beispiel Bayern – schaffen das. Sie schultern auch neue Bürden weitgehend geräuschlos. Die bayerischen Behörden kamen nicht nur mit dem Flüchtlingsstrom des Jahres 2015 besser zurecht als andere Bundesländer. Sie und ihre Bürger profitieren zudem von der Unfähigkeit der anderen. Weil das Land auch Baumaßnahmen vorausschauend plant, bekommt es jedes Jahr die übriggebliebenen Straßenbau-Milliarden überwiesen, die andere Bundesländer wegen ihrer Planungsengpässe nicht verbauen können. Belohnt werden Politiker dieser Länder mit zufriedeneren Wählern und hoher politischer Stabilität.
Ein Blick auf das höchste Gericht zeigt, dass die Verlagerung von politischen Aufgaben auf nicht gewählte Beamte sogar dauerhaft gut funktionieren kann. Das Bundesverfassungsgericht ist längst zu einer Nebenregierung geworden. Die Karlsruher Richter prüfen nicht nur die Verfassungsmäßigkeit der Gesetze, sie erteilen Regierung und Parlamenten regelmäßig Nachhilfeunterricht, wie eine Gesetzgebung aussehen muss, damit sie Bestand hat. Das Verfassungsgericht genießt bei den Bürgern unter allen Institutionen des Staates das höchste Ansehen. Obwohl es selbst demokratisch nahezu nicht legitimiert ist – die Verfassungsrichter werden in einem undurchsichtigen Verfahren jeweils zur Hälfte vom Bundesrat und vom Bundestag ausgesucht –, stabilisiert es das Vertrauen der Bürger in die Demokratie und das politische System.
Wie Kreisgebietsreformen und Wahlbeteiligungen zusammenhängen
Schlechte Verwaltungen dagegen gehen in die Knie, wenn ihre Ämter mit neuen Aufgaben und mehr Verantwortung konfrontiert werden. Sie schließen sich ab – in Berlin sogar im engen Sinn des Wortes. Nicht nur in den Jugendämtern der Stadt wird der Besucherverkehr gelegentlich eingestellt, wenn die Arbeit zu viel wird. Auch das Landesamt für Gesundheit und Soziales, kurz Lageso, machte schon im Jahr 2014 tageweise zu, lange bevor der Flüchtlingsstrom des Jahres 2015 das Amt vollends zusammenbrechen ließ. Ein Alarmsignal, das übergangen wurde. Für die Bürger waren das Lageso und das Chaos auf den Bürgerämtern Gründe, den rotschwarzen Senat abzuwählen und Parteien wie die AfD zu stärken – selten gab es einen so sichtbaren Zusammenhang zwischen Verwaltungsversagen und Staatsverdruss.
Der französische Politologe Pierre Rosanvallon sieht in der Selbstabschottung im Behördenbetrieb eine der größten Gefahren für die demokratische Gesellschaft. Mit „regelrechten Komplikationsverfahren“ sicherten öffentlich Bedienstete ihre Macht gegenüber dem Bürger. Das sei nicht nur ärgerlich, sondern wirke in Zeiten der Informationsfreiheit regelrecht zersetzend für das Vertrauen der Bürger in ihre Institutionen. Während vom Bürger, von privaten Organisationen, selbst von Unternehmen nahezu vollständige Transparenz erwartet werde, behalte sich die Verwaltung immer noch vor, ihre Angelegenheiten ohne Einblick von außen zu regeln.
Wie sich amtlicher Autismus auf die Bewohner eines Landes auswirkt, wurde in Mecklenburg-Vorpommern untersucht. Die Bürger dieses Bundeslandes haben eine Kreisgebietsreform hinter sich. So etwas planen Bundesländer – wie zur Zeit auch das Land Brandenburg –, um Verwaltungskosten zu senken und die Behörden an die schrumpfende Bevölkerung anzupassen. Doch nach solchen Reformen sinkt nach Erkenntnissen des Ifo-Instituts regelmäßig die Wahlbeteiligung. Diejenigen, die zur Wahl gehen, entscheiden sich häufiger für extreme Parteien. Auch wenn niemand genau weiß, was eine untere Wasserbehörde tut, oder kaum jemand eine Sitzung des Kreistages besucht: Wenn die Kreisverwaltung 50 Kilometer entfernt ist, sinkt die Zustimmung zur und die Beteiligung an der Demokratie.
Mecklenburgs Polizei ist vor allem mit Administrativem beschäftigt
Dasselbe bei der Polizei. Die Bürger Mecklenburg-Vorpommerns fühlen sich nach einer Umfrage der „Ostsee-Zeitung“ besonders unsicher. Sie glauben, das Land habe zu wenig Polizisten. Tatsächlich hat es aber, pro Kopf der Bevölkerung gerechnet, mehr Polizisten als die meisten anderen Bundesländer. Jeder zehnte Ordnungshüter fehlt allerdings wegen Krankheit, mehr als 15 Prozent sind dienstlich so eingeschränkt, dass sie die Polizeiautos nicht steuern und keine Waffe tragen dürfen. Wer einsatzfähig ist, arbeitet vor allem im Innendienst. Schichtpläne organisieren, Einsätze planen, Kriminalfälle recherchieren. Nur sieben Prozent der Gesamtarbeitszeit der Polizei wird für den Streifendienst und die Präsenz im öffentlichen Raum aufgewendet. Kein Wunder, dass die Bürger des Landes sich von ihrem Staat schlecht beschützt fühlen. Würde der Computer die Schichtpläne schreiben, würden die Innendienstarbeiten weitgehend von Angestellten erledigt und gäbe es ein ordentliches Gesundheitsmanagement, könnte die Polizei wieder auf Streife gehen.
Auch Kreisgebietsreformen müssen heute nicht mehr so durchgeführt werden wie früher: Die Digitalisierung, so sagt der Verwaltungsinformatiker Norbert Gronau von der Universität Potsdam, würde auch andere Lösungen möglich machen. Auch dezentrale Verwaltungen können heute effizient und gut arbeiten. Um intensiv nach solchen anderen Lösungen zu suchen, müssten sich die Landespolitiker allerdings wieder darüber klar werden, wie sehr ihre eigene Legitimation von der Arbeit und der Organisation ihrer Verwaltungen abhängt. Berlins Ex-Regierender Klaus Wowereit hat seine Beamten immer verteidigt. Wenn in seiner Gegenwart über Bürokraten geschimpft wurde, wurde er ärgerlich. „Ohne Bürokratie ist der Staat nichts“, sagte er. Umso schlimmer, dass in seiner Regierungszeit die Bürokratie in Berlin so weit verrottete, dass der Staat dahinter manchmal kaum noch erkennbar ist.
Als Olaf Scholz (SPD) im Jahr 2011 sein Amt als Erster Bürgermeister Hamburgs antrat, fand er zwar geordnetere Verhältnisse vor. Doch wie Berlin litt auch der Stadtstaat an der Elbe unter einem Großprojekt, das die Behörden nicht unter Kontrolle bringen konnten: die Elbphilharmonie. Das Konzerthaus war zu diesem Zeitpunkt eine Planungsruine. Die Stadt und der ausführende Baukonzern Hochtief waren heillos zerstritten. Auf großen Teilen der Baustelle wurde gar nicht mehr gearbeitet. Es herrschten Planungsstopp, Baustopp, Kommunikationsstopp.
Olaf Scholz zeigte in Hamburg, wie mit guter Verwaltung Projekte gelingen
In seiner Regierungserklärung zum Amtsantritt versprach Scholz, am Beispiel der Elbphilharmonie zu demonstrieren, wie er sich verbindliche Planung, gute Verwaltung, und Kontrolle städtischer Bauten vorstelle. Ein halbes Jahr später zitierte er die am Bau Beteiligten an einen runden Tisch, im Dezember 2012 präsentierte er eine Einigung. Die Verantwortung war verbindlich geklärt, der Kostenrahmen und der Termin für die Fertigstellung wurden endgültig festgeschrieben (das Haus wurde mit 860 Millionen Euro mehr als zehnmal so teuer wie anfangs geplant). Diese Vereinbarung aber war die erste, die Bestand hatte. Im Januar diesen Jahres wurde das Haus eröffnet. Scholz war es nicht nur gelungen, das Thema der Verachtungsmaschine der öffentlichen Wahrnehmung zu entwinden. Heute sind die Hamburger begeisterte Freunde der Elbphilharmonie.
Bürger erwarten eine effiziente und funktionsfähige Verwaltung. Nicht nur, weil sie ein Recht darauf haben. Sondern, weil sie am Zustand ihrer Bürokratie messen, wie gut ihr politisches System funktioniert. In Hamburg hat es zum Schluss doch funktioniert. Diesen Beweis muss Berlin noch erbringen.
- Dieser Essay ist ein gekürztes und bearbeitetes Kapitel aus dem Buch „Regierung ohne Volk. Warum unser politisches System nicht mehr funktioniert“ von Ursula Weidenfeld, das an diesem Wochenende im Rowohlt Berlin Verlag erscheint
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