Entsetzen in der Bevölkerung: Ägyptens größte Fußball-Katastrophe
Über 70 Tote und mehr als 1000 Verletzte. Das ist die traurige Bilanz der heftigsten Krawalle in der Fußball-Geschichte Ägyptens. Wie konnte es zu solch einem Unglück kommen?
Demonstrationen im ganzen Land, ein kleinlauter Militärrat, hitzige Debatten im Parlament - Ägypten steht unter Schock. Die Menschen auf der Straße und in den Teehäusern können die Tragödie der vergangenen Nacht noch gar nicht fassen. Den ganzen Tag laufen im Fernsehen die Bilder aus der Hölle im Stadion von Port Said. Tote liegen auf dem Rasen, Massen prügeln besinnungslos aufeinander ein, Spieler rennen in Todesangst vom Platz, verbarrikadierten sich in den Kabinen und flehen über Handy um ihr Leben. Feuerwerkskörper setzen Zuschauerränge in Brand. Fans werden von den Tribünen in die Tiefe gestoßen, andere von der panisch fliehenden Menge zu Tode getrampelt. Stundenlang dauerten in der Nacht zu Donnerstag die mörderischen Ausschreitungen in der Küstenstadt Port Said zwischen den Fans der Heimmannschaft Masry und den Unterstützern von Meister Ahly aus der 170 Kilometer entfernten Hauptstadt Kairo. Mindestens 74 Tote und über 1000 Verletzte forderten die schlimmsten Fußball-Krawalle in der Geschichte Ägyptens – und sind gleichzeitig die bisher größte Katastrophe von Anarchie und Gesetzlosigkeit seit dem Sturz von Hosni Mubarak vor fast genau einem Jahr.
Am Donnerstagmorgen landeten zwei Militärhubschrauber mit den verängstigten Ahly-Spielern sowie zwei Dutzend Schwerverletzten in Kairo, wo sie von dem Vorsitzenden des Militärrates, Feldmarschall Mohammed Hussein Tantawi, empfangen wurden. „Dies wird Ägypten nicht klein kriegen“, erklärte er und rief eine dreitägige Staatstrauer aus. „Wir haben einen klaren Fahrplan, um die Macht an gewählte Zivilisten zu übergeben. Wenn irgendjemand das durch Chaos verhindern möchte, es wird ihm nicht gelingen.“ Man werde die Verantwortlichen nicht ungestraft davonkommen lassen.
Doch wer für das Massaker in der Arena von Port Said verantwortlich ist, darüber gab es den ganzen Tag über hitzige Debatten. Die einen machten die gewalttätigen Ultra-Fanclubs beider Seiten verantwortlich. Die anderen sahen darin das Werk von Provokateuren des alten Regimes. „Der wahre Grund für diese Eskalation ist die bewusste Abwesenheit von Polizei und Militär“, erklärte der Abgeordnete der Muslimbruderschaft, Essam el-Erian. Der Zusammenbruch der inneren Sicherheit solle absichtlich Chaos sähen und das Land zerstören, um „die Revolution zu unterminieren und die friedliche Übergabe der Macht an die zivilen Gewählten zu verhindern“. Auch der Präsident des Masry-Klubs von Port Said, der noch in der Nacht zurücktrat, sprach von „einer Verschwörung, um den Staat zum Einsturz zu bringen“. Die Polizei müsse endlich wieder in voller Stärke auf die Straße und ihre Arbeit tun.
Die Einheiten der Sonderpolizei machten sich aus dem Staub
Stattdessen standen die Einheiten der schwarzen Sonderpolizei ratlos und tatenlos inmitten der rasenden Menge, bevor sie sich ganz aus dem Staub machten. Augenzeugen berichteten, Fans hätten völlig ungehindert Schlagstöcke, Messer, Flaschen und Feuerwerkskörper durch die Eingangskontrollen in die 18.000 Zuschauer fassende Arena bringen können. Auch seien während des Spiels die Absperrungen zwischen den Fan-Blocks geöffnet worden – ein unfassbarer Verstoß gegen international geltende Sicherheitsregeln. Donnerstag früh entließ der ägyptische Innenminister den zuständigen Polizeichef und mit ihm die gesamte Chefriege des ägyptischen Fußballverbands.
Denn auch in Ägypten geben seit Jahren gewalttätige Fans der so genannten Ultras in den Sportstadien den Ton an, ein Problem, um was alle Verantwortlichen wissen. Vor der Revolution galten sie als unpolitische Hooligans, bekannt für ihre obszönen Gesänge und ihre ständigen Rangeleien mit der Polizei. „Ultra ist ein Lebensstil. Du wirst nicht einfach ein Ultra, das muss von innen kommen“, sagte einer von ihnen dem Fernsehsender Al Jazeera, der mit Ahmed nur seinen Vornamen nennen wollte. Gemeinsames Motto der Ultras ist ACAB – „all cops are bastards“ – oder übersetzt: „alle Polizisten sind Arschlöcher“. Auf 30.000 wird die Zahl der fast geheimbündlerisch organisierten Schläger in Ägypten geschätzt, die dann während der Revolution gegen Hosni Mubarak plötzlich offen auf der Seite der Demonstranten mitmischten.
Damals standen sie ganz vorne an den Brennpunkten der brutalsten Polizeigewalt, von den Aktivisten bewundert für ihre Unerschrockenheit, Kaltblütigkeit und Härte. Tagelang lieferten sie sich zwischen der 6. Oktober-Brücke und dem Ägyptischen Museum Straßenkämpfe mit Mubarak-Schlägern und schützten damit die friedlichen Zeltlager auf dem Tahrir-Platz. Auch bei der „Schlacht der Kamele“, als bezahlte Regimeprügler auf Kamelen und Pferden wie eine mittelalterliche Horde auf dem revolutionären Kreisverkehr eingeritten, stemmten sie sich vor den Augen der tatenlosen Armee den Angreifern entgegen. Dutzende Menschen wurden damals getötet und hunderte verletzt, heute gilt die blutige Schlacht als Wendepunkt des 18-tägigen Volksaufstands.
Und seitdem tauchen sie überall auf, wo es politische Randale gibt. Beim Sturm auf die israelische Botschaft im Stadtteil Dokki im September 2011 gehörten sie zu den Anstiftern. Hochgezogene Kapuzen ihrer Sweatshirts sind ihr Markenzeichen. Stets gehen sie mit Fangesängen auf die Sicherheitskräfte los, mit denen sie noch viele Rechnungen offen haben. Inzwischen sind sie bei allen revolutionären Zeltlagern auf dem Tahrir-Platz dabei, immer darauf aus, mit Knüppeln, Molotow-Cocktails oder Steinen in der Hand ihr Mütchen an den Uniformierten zu kühlen.
Und so rüstet sich Ägypten auf eine neue Woche der Gewalt. An der Ausfallstraße von Port Said wurden Militärposten errichtet, in der Stadt patrouillieren gepanzerte Fahrzeuge, nachdem es vereinzelt zu Schießereien gekommen war. Auch in Kairo wurde die Militärpräsenz seit dem frühen Morgen überall verstärkt. Am Nachmittag dann zogen empörte Kolonnen von Ahly-Fans, die mit dem Zug aus Port Said zurückgekehrt waren, in Richtung Tahrir-Platz und Innenministerium. Und andere Ahly-Ultras machten sich auf den Weg nach Port Said.
Martin Gehlen