Seehofers Streit mit der Kanzlerin: Achse der Unwilligen
Seehofer und seine Mannen sind bereit, im Streit mit der Kanzlerin bis zum Äußersten zu gehen. Schon ist von einer Kampfabstimmung in der Fraktion die Rede, in der kaum noch jemand Merkel unterstützt. Ist der Konflikt noch zu lösen?
Am Mittwoch fällt „Markus Söder persönlich“ aus. Der CSU-Spitzenkandidat tritt nicht um 19 Uhr im Mathäser Filmpalast in München auf, um Interessierten „Einblicke in sein persönliches und politisches Leben“ zu geben, wie es in den Ankündigungen für die Vorwahlkampf-Werbetour vielversprechend heißt. Der Termin ist gestrichen „aufgrund der aktuellen politischen Situation“. Markus Söder ist an anderer Stelle persönlich gefragt. In Berlin wollen Angela Merkel und Horst Seehofer versuchen, die jüngste Auflage ihres Flüchtlingsstreits beizulegen. Söder soll seinem Parteivorsitzenden den Rücken stärken. Ausgerechnet Söder! Merkel bringt den Hessen Volker Bouffier mit. Die Lage ist also bitter ernst.
Der Konflikt kam mit Ansage angerollt. Vorige Woche verkündete der CSU- Landesgruppenchef erste Details aus dem „Masterplan Migration“ des Bundesinnenministers. Bei Dobrindt heißt das Werk übrigens „Masterplan für Abschiebungen“. Auf ein Element legt der Chef der CSU-Abgeordneten im Bundestag besonderen Wert: Künftig sollten Asylbewerber, die schon in einem anderen EU-Land registriert sind, direkt an der Grenze zurückgewiesen werden. Es müsse Schluss sein damit, dass jeder, der „Asyl“ sage, ins Land gelassen werde, auch wenn seine Fingerabdrücke in der Datenbank Eurodac verrieten, dass ein anderes EU-Land für ihn zuständig sei.
„Das ist die Rechtslage in Europa“, hat Dobrindt damals behauptet, „und ich will, dass diese Rechtslage durchgesetzt wird“. Die Ankündigung machte nur mäßig Furore, auch weil unklar blieb, ob Seehofer das genau so wollte oder eher nur Dobrindt. Über die Frage, wer hinter der Sache steckt, wird aber sowieso noch zu reden sein. Über die Rechtslage auch.
Merkel wird rüde unterbrochen
Tatsache ist, dass Merkel und ihre Leute sich irgendwann zwischen Regierungsbefragung, Handelskrieg mit Donald Trump und G-7-Gipfelkrieg mit Donald Trump auch Seehofers Entwurf ansahen. Die Kanzlerin legte ein Veto ein. 62 von 63 Punkten waren aus ihrer Sicht in Ordnung, der 63. nicht. Seehofers „Masterplan“ sollte eigentlich an diesem Mittwoch ins Kabinett. Der Minister legte den Plan auf Eis, und die CSU brachte die Kanonen in Stellung.
Am Dienstagabend blättert Merkel im Hotel Maritim fahrig in Papieren hin und her. Auf dem Podium des „Wirtschaftstags“ des CDU-Wirtschaftsrats erläutert der österreichische Kanzler Sebastian Kurz, wie er als Ratspräsident in den nächsten Monaten der EU eine gemeinsame Asylpolitik verordnen will. „Nur, wenn wir die Grenzen nach außen sichern“, sagt er, „können wir ein Europa ohne Grenzen nach innen erhalten.“
Kurz ist witzig, konzentriert, fesselt die Zuhörer. Merkel wirkt müde. Am Rednerpult kämpft sie mit den Sätzen. Es geht um Digitalisierung, Pflegekräfte, Busverkehr auf dem Land und den Solidaritätsbeitrag, den die Koalition nur etwas will und so, dass die gut verdienenden Zuhörer im Saal nicht davon profitieren. Rüde wird sie von Zwischenrufern unterbrochen, muss den Faden wiederfinden, wirft Artikel durcheinander. Der Applaus nach 30 Minuten bleibt höflich, aber beim Rausgehen raunen sich Zuschauer ein ungläubiges „Hast du das gesehen?“ zu.
Sie wissen noch nicht, dass Merkel einen furchtbaren Nachmittag hinter sich hat. In der eigenen Fraktion sind sie über die CDU- Chefin hergefallen wie noch nie. Dabei hatten Merkel, Seehofer und Fraktionschef Volker Kauder vor der Sitzung demonstrativ die Köpfe zusammengesteckt, und Kauder hatte gebeten, den Chefs Zeit zur Verständigung zu lassen. Vergebens. 13 Abgeordnete melden sich zu Wort. Elf fordern zum Teil ultimativ, dass die Kanzlerin den Widerstand gegen Seehofer aufgibt.
Das wäre für Merkel noch erträglich gewesen, handelte es sich doch durchweg um alte Kritiker. Schlimm war, dass alle anderen dazu schwiegen. Niemand verteidigte Merkel. Auch aus der CDU stellen sich nur Generalsekretärin Annegret Kramp-Karrenbauer und der schleswig-holsteinische Ministerpräsident Daniel Günther offen hinter die Parteivorsitzende.
80 Prozent für Seehofer
Hinterher verbreitete ein prominenter Merkel-Kritiker, so ungefähr 80 Prozent der Fraktion seien auf Seehofers Seite. Das ist vermutlich übertrieben. Aber dass anderntags welche mit Kampfabstimmung in der nächsten Fraktionssitzung drohen, ist ein Signal. Der Mittelstandspolitiker Christian von Stetten hatte dazu schon im Fraktionsvorstand aufgerufen. Dort war es Seehofer, der um Zeit für die Kanzlerin bat.
Selbst Merkel-Freunde geben zu, dass die eigenen Truppen langsam „wundgerieben“ seien. Alle hatten aufgeatmet, als mit dem „Regelwerk“-Kompromiss der Streit zwischen CDU und CSU beigelegt schien. Niemand will ihn neu führen. Und dazu immer wieder schreckliche Fälle wie der Mord an der Schülerin Susanna, dazu die triumphierenden Gesichter der AfD im Bundestag – seit der Kölner Silvesternacht beherrscht ein Sicherheitsdiskurs jedes Reden über Flüchtlinge, dem CDU und CSU als historische Partei der inneren Sicherheit sich weder entziehen wollen noch können.
Merkel hat der Fraktion zugesagt, dass sie sich „zeitnah“ mit Seehofer verständigt. Kauder hat eine Sondersitzung versprochen. Aber wie das gelingen soll, ist allen schleierhaft. Sachliche Kompromisse wären denkbar. Seehofer selbst hat wohl ursprünglich erwogen, die Zurückweisung an der Grenze nur als ein letztes Mittel ins Auge zu fassen für den Fall, dass sich die Flüchtlingszahlen der im Koalitionsvertrag vereinbarten Obergrenze von bis zu 220000 Personen im Jahr nähern. Aber niemand glaubt, dass es um eine Sachfrage geht. Schon in der ersten Runde des Flüchtlingsstreits zwischen CDU und CSU ging es ums Rechthaben, ums Gesichtwahren und um symbolische Gesten. Damals hatten der Ex-Generalsekretär Dobrindt und seine Truppe die „Obergrenze“ zum magischen Wort erklärt, das die rechten AfD-Geister bannen sollte. Später in den Koalitionsverhandlungen kamen die „Anker-Zentren“ dazu. Die AfD stieg in Bayern auf 13 Prozent. Jetzt soll sie das nächste Zaubermittel lähmen: „Für mich sind die Zurückweisungen das Entscheidende“, hat Dobrindt erklärt.
Den Landesgruppenchef mit offenen Ambitionen auf Seehofers Nachfolge als Parteichef haben Merkels verbliebene Truppen als den Scharfmacher im Hintergrund ausgemacht. Söder als der Mann, der bei Strafe eines neu aufbrechenden Machtkampfs die absolute Mehrheit in Bayern verteidigen muss, ist Scharfmacher sozusagen von Amts wegen. Ob Seehofer in dieser Konstellation überhaupt noch die Beinfreiheit für Kompromisse hat, ist ungewiss.
Aber auch Merkels Spielraum ist eng. Die Frage der Zurückweisung ist nur eine Variante der alten Frage, ob Deutschland seine Grenzen schließen kann und soll. Mit anderen Worten: Es geht um den Kern ihrer Asylpolitik. Merkel hat sich einseitigen Grenzschließungen immer widersetzt, weil sie sie für juristisch schwierig und europapolitisch nicht wünschenswert hielt wegen der absehbaren Überlastung von Staaten wie Italien und Griechenland.
Zurückweisungen juristisch schwierig
Tatsächlich ist völlig unklar, wie Seehofers Zurückweisungen juristisch wasserdicht funktionieren sollen. Für den Umgang mit Flüchtlingen gilt nicht mehr die nationale Asyl-Regelung, nach der jeder abgewiesen werden kann, der über einen sicheren Drittstaat einreist. Längst regiert europäisches Recht. Nach der Dublin-III-Verordnung muss das EU-Land einen Asylfall bearbeiten, in dem ein Flüchtling zuerst registriert wurde. Reist er weiter und stellt einen zweiten Asylantrag, kann ihn das zweite Land zurückschicken. Allerdings ist dafür ein Prüfverfahren vorgesehen, das mehr Zeit braucht, als am Schlagbaum an der Grenze bliebe. Und gerade erst hat der Europäische Gerichtshof klargestellt, dass kurzer Prozess nicht in Frage kommt.
Aber diese Einzelheiten spielen in der Debatte gar keine Rolle. Der Ruf nach der „Anwendung geltenden Rechts“ ist nur mehr eine Kampfformel. Einen Ausweg zu finden, erschwert er aktuell eher. Selbst Seehofer gibt sich am Rande einer Pressekonferenz mit dem Österreicher Kurz ungewiss: Er müsse ein Hellseher sein, wenn er vorhersagen solle, wann eine Lösung gefunden werden könne, die alle Beteiligten zufrieden stelle und die Fraktion auch.
Aber der CSU-Mann lächelt dabei. Apropos Fraktion – läuft doch für ihn! Mit Kurz, der bald die EU-Ratspräsidentschaft übernimmt, hat er über eine „Achse der Willigen“ gemeinsam mit der rechtspopulistischen Regierung in Rom gesprochen. Da läuft auch was.
Nur eins scheint vor lauter Deja-Vu-Erlebnis der alten Merkel-Seehofer-Krise aus dem Auge zu geraten. Der niedersächsische Ministerpräsident Stephan Weil bringt es in Erinnerung: Die Bundesregierung, sagt Weil, bestehe ja nicht nur aus CDU und CSU. Wenn Seehofer etwas wolle, dann werde er es auch mit der SPD abstimmen müssen. Die hat schon wissen lassen: Von Zurückweisungen steht nichts im Koalitionsvertrag.