Gleichberechtigung für Homosexuelle: Abschaffung des Paragrafen 175 - das Ende der Schande
123 Jahre lang machte der Paragraf 175 Homosexuellen das Leben zur Hölle. Vor 20 Jahren fiel er - und volle Gleichberechtigung wurde erstmals möglich.
Vor 20 Jahren war Schluss. Da zog der Bundestag einen späten Strich unter mehr als ein Jahrhundert Kämpfe und Leiden und schaffte den berühmt-berüchtigten Homosexuellen-Paragrafen 175 des deutschen Strafgesetzbuchs ab. Die Liebe zwischen Männern ist seither kein Fall für die Staatsanwaltschaft mehr.
123 Jahre zuvor war männliche Homosexualität erstmals in ganz Deutschland mit harten Strafen belegt – und liberalere Gesetze, etwa in Bayern, damit kassiert worden. Gleich zu Beginn schuf das frisch gegründete Kaisereich am 15. Mai 1871 jenen Paragrafen 175, in dem es hieß: „Die widernatürliche Unzucht, welche zwischen Personen männlichen Geschlechts oder von Menschen mit Thieren begangen wird, ist mit Gefängniß zu bestrafen; auch kann auf Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte erkannt werden.“ Die Nationalsozialisten verschärften den 175 im Jahre 1935 weiter: Sie kriminalisierten nun nicht nur schwulen Geschlechtsverkehr, sondern jede Form mann-männlicher Intimität und setzten die Strafen von einem halben auf fünf Jahre herauf. Tausende Homosexuelle kamen in KZs, nur wenige überlebten die Torturen.
Aber der Paragraf 175 überlebte die Nazis. Jedenfalls im Westen Deutschlands schadete ihm seine besondere NS-Geschichte nicht: Während die DDR zur wilhelminischen Fassung zurückkehrte und Ende der fünfziger Jahre auf die Verfolgung erwachsener homosexueller Paare verzichtete, 1988 dann auch die Strafbarkeit von Beziehungen zu noch nicht Volljährigen strich, lebte die Nazi-Fassung des Paragrafen in der demokratischen Bundesrepublik noch fast ein Vierteljahrhundert weiter. Etwa 50000 Männer wurden wegen „Unzucht“ verurteilt. Allein in den ersten 15 Jahren der Bundesrepublik wurde viermal mehr abgeurteilt als in 15 Jahren Weimarer Republik – was die „Aggressivität der ’neuen’ Republik gegenüber den Homosexuellen zeige, schreibt Hans-Georg Stümke in seiner politischen Geschichte der Homosexuellen in Deutschland. Eine Verfassungsbeschwerde wiesen die Karlsruher Verfassungsrichter 1955 mit der Begründung ab, der Paragraf sei nicht ausreichend nationalsozialistisch, also auch demokratietauglich.
Erst 1969 gelang der ersten Großen Koalition unter dem Christdemokraten Kurt-Georg Kiesinger eine Reform. Ihre sozialliberale Nachfolgerin schaffte dann 1973 die Strafen für Sex zwischen schwulen Erwachsenen ab. Den 175 zu streichen, dazu rang sich auch die Regierung von Willy Brandt nicht durch. Diskriminierend blieben die unterschiedlichen sogenannten „Schutzalter“ für heterosexuellen und schwulen Sex: Wer Sex mit einem jungen Mann unter 18 hatte, wurde noch bestraft, der mit einem Mädchen, das mindestens 14 Jahre alt war, nicht. Lesbische Beziehungen waren erst gar kein Thema.
Mit der deutschen Einheit war der Paragraf nicht mehr zu halten
Obwohl damit seit 1973 nur noch Restbestände der Kriminalisierung in Kraft waren, gegen die sich mehr als hundert Jahre lang Juristen, Bürgerrechtlerinnen, Sozialreformer und Homosexuellenaktivisten gestemmt hatten : Gesellschaftlich wirkte das Stigma weiter. Noch in den 1980er Jahren wurde Herbert Rusche bei einem Attentat verletzt, der erste offen schwule Bundestagsabgeordnete. Ein Pfarrer, der schwulen Gruppen einen Raum überlassen hatte, verlor seine Stelle, es setzte sogar Diskussionsverbote. Und der Antrag auf Abschaffung des diskriminierenden Paragrafen, den der Grüne Rusche und seine Fraktion 1986 einbrachte, wurde seinerzeit noch klar abgeschmettert.
Der Paragraf, den der Bundestag in Bonn am 10. März 1994 beinahe sang- und klanglos aus dem Strafgesetzbuch strich, war nur noch ein Restbestand, aber auch dies letzte Stück Wegs war hart, sagt Manfred Bruns. „Intern gab es vorher heftige Kämpfe.“ Bruns, bis 1994 Bundesanwalt am Bundesgerichtshof in Karlsruhe und einer der frühen prominenten bekennenden Schwulen in der Bundesrepublik, erinnert sich: Die ersten Vorschläge des damaligen Justizministers Klaus Kinkel, eines Liberalen, seien „unmöglich“ gewesen, bis zuletzt gab es Versuche, wenigstens die symbolische Zahl im Strafgesetzbuch zu erhalten – unter anderem sollte auch das Schutzalter für Mädchen dort festgeschrieben werden. Bruns ist sicher: „Ohne die Wiedervereinigung gäbe es den Paragrafen noch.“ Die an den Runden Tischen versammelten Bürgerrechtler hatten 1990 durchgesetzt, dass im Osten das liberalere DDR-Recht zu Abtreibung und Homosexualität angewandt wurde. Dadurch entstand gespaltenes Recht im neuen Deutschland: Sex mit einem 17-jährigen in Ost-Berlin war seither straflos, im Westen der Stadt dagegen ein Delikt. „Das konnte so nicht bleiben, nur deshalb fiel der Paragraf 175.“
Plötzlich heiratet der Kollege - einen Mann
Und jener 10. März hat bis heute Bedeutung, findet Bruns. „Nachdem der 175 weg war, konnte man anfangen, über Lebenspartnerschaften zu reden. Das wäre mit Paragrafen, der Homosexualität weiter als sittenwidrig brandmarkte, nicht möglich gewesen.“ Die Lebenspartnerschaften wiederum hätten Schwule und Lesben sichtbar gemacht und einen starken Emanzipationsschub ausgelöst: „Auf einmal heiratete der Kollege vom Schreibtisch nebenan einen Mann, Schwule waren keine Unbekannten mehr, Wesen von einem andern Stern.“ Von der gemeinsamen Adoption abgesehen, sagt Bruns, sei die Gleichstellung juristisch „durch“.
Sie stoße aber im Alltag nach wie vor auf Hürden. Weil Hetero-Ehe und schwule Lebenspartnerschaft zwar praktisch eins seien, aber nicht so genannt würden, müssten all die Gesetze ergänzt werden, in denen von Ehe die Rede sei - und das ist eine Menge. Wer immer Recht anwende, Richter, Anwältinnen, Beamte, habe da „unentwegt Probleme“, weiß Bruns, der nach wie vor Rechtsberatung für den Lesben- und Schwulenverband LSVD macht. Das zu ändern, meint er, wäre ein wesentlicher Beitrag zum Bürokratieabbau. Bruns’ eigene Erinnerung an jenen 10. März vor zwanzig Jahren ist gemischt: „Das war wie so oft mit Lebenszielen, auf die Sie lange hingearbeitet haben, oder wie mit einer wichtigen Prüfung: Wenn es dann soweit ist, sieht man es eher nüchtern als mit überschäumender Freude. Trotzdem: Gut, dass wir es geschafft haben.“
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