400 Luftangriffe binnen 24 Stunden: 60.000 Menschen fliehen vor neuen Bomben in Syrien
In Syrien sind zehntausende Menschen auf der Flucht. Eine Resolution für Hilfslieferungen scheitert vorerst am Veto von China und Russland.
Im Norden Syriens sind nach UN-Angaben bis zu 60.000 Menschen durch neue Angriffe in den vergangenen Wochen vertrieben worden. Die Menschen seien vor allem in der Provinz Idlib auf der Flucht, sagte eine Sprecherin des UN-Nothilfebüros (Ocha) der Deutschen Presse-Agentur am Freitag. Seit Anfang Dezember haben Syrien und Russland ihre Luftangriffe auf die Rebellengebiete in Idlib massiv verstärkt.
Die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte berichtete am Freitag, dass es binnen 24 Stunden mehr als 400 Luftangriffe im Süden und Osten der Provinz gegeben habe. Nach Angaben von Aktivisten seien mehr als 100 Menschen in der vergangenen Woche getötet worden.
Keine Einigung in der UN über Hilfslieferungen
Trotz der ernsten Lage haben sich die Vereinten Nationen nicht über dringend benötigte Hilfslieferungen nach Syrien einigen können. Mit einem doppelten Veto im UN-Sicherheitsrat lehnten Russland und China am Freitag eine unter anderem von Deutschland ausgearbeitete Resolution zur Fortführung der humanitären Hilfe der Vereinten Nationen in dem Bürgerkriegsland ab. Auch ein russisch-chinesischer Gegenentwurf erhielt im mächtigsten UN-Gremium nicht die nötige Zustimmung von neun der 15 Mitglieder. Es sei ein trauriger Tag für Syrien und für den Sicherheitsrat, sagte Deutschlands UN-Botschafter Christoph Heusgen.
Hintergrund des Streits ist eine seit 2014 bestehende Resolution, die es den Vereinten Nationen erlaubt, wichtige Hilfsgüter über bislang vier Grenzübergänge in Teile des Landes zu bringen, die nicht von Machthaber Baschar al-Assad kontrolliert werden. Ein ursprünglicher Entwurf von Deutschland, Belgien und Kuwait enthielt einen zusätzlichen Grenzübergang und bewegte Russen und Chinesen zu ihrem Gegenentwurf mit nur zweien. Ein Kompromissvorschlag mit drei Übergängen von der Türkei und vom Irak aus überzeuge Moskau und Peking nicht. Das Mandat für die jetzige Resolution läuft am 10. Januar aus, bis dahin hat der Sicherheitsrat Zeit sich zu einigen.
Laut UN-Generalsekretär Antonio Guterres liefert die UNO Lebensmittel für etwa 4,3 Millionen Menschen nach Syrien. Darüber hinaus erhielten mehr als 1,3 Millionen Menschen gesundheitliche und medizinische Unterstützung durch die UN. Guterres sagte am Montag bei der Vorstellung vor dem UN-Sicherheitsrat in New York, den Vereinten Nationen bliebe aufgrund der aktuellen politischen Situation keine andere Wahl, als auch künftig humanitäre Hilfsgüter über die syrische Grenze in das Bürgerkriegsland einzuführen und dabei auch Konfliktlinien zu überqueren. Dem UN-Bericht zufolge verschlechterte sich die humanitäre Situation in Syrien 2019 im Vergleich zum Vorjahr.
Luftangriffe mit vielen Toten in der Provinz Idlib
In den vergangenen Tagen hat sich die Lage im Nordwesten Syriens weiter zugespitzt. Aktivisten berichteten am Freitag, dass bei heftigen Gefechten mehr als 80 Kämpfer getötet worden. 42 Dschihadisten und neun Rebellenkämpfer auf der einen Seite sowie 30 Regierungssoldaten auf der anderen Seite seien bei den Kämpfen in der Provinz Idlib binnen eines Tages getötet worden, teilte die syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte am Freitag mit.
Die Kämpfe hätten in der Nähe der Stadt Maarat al Numan stattgefunden, die von Rebellen gehalten wird. Russische Kampfflugzeuge bombardierten die Gegend um die Städte Maarat al Numan und Sarakeb. Die oppositionsnahe Beobachtungsstelle mit Sitz in Großbritannien bezieht ihre Informationen von Aktivisten vor Ort. Für Medien sind die Angaben meist kaum zu überprüfen.
Wegen des verstärkten Bombardements durch das russische und syrische Militär sind im Nordwesten Syriens Tausende Menschen in Richtung der türkischen Grenze geflohen. Auf der Ausfallstraße von Maarat al Numan reihte sich am Freitag Auto an Auto, berichteten Anwohner und Rettungskräfte. Die Oppositionshochburg Maarat al Numan sei das Hauptziel der Angriffe gewesen. "Es ist ein Exodus Tausender Menschen. Eine humanitäre Katastrophe, wir sehen Leute zu Fuß auf den Straßen und andere Leute, die bei ihren Häusern auf Autos warten, die sie rausbringen", sagte Osama Ibrahim, ein Sanitäter in der Stadt. Durch die Luftangriffe seien über Nacht sechs Menschen in Maarat al Numan und weitere elf in umliegenden Dörfern getötet worden, so der Sanitäter.
Die Provinz Idlib sowie Teile der angrenzenden Provinzen Hama, Aleppo und Latakia werden von dem früheren Al-Kaida-Ableger HTS und anderen islamistischen Milizen kontrolliert. Die Region ist die letzte große Rebellenhochburg im Land. Syriens Machthaber Baschar al-Assad ist entschlossen, die Region wieder unter seine Kontrolle zu bringen. Auf Vermittlung der Türkei und Russlands wurde im September 2018 eine Waffenruhe vereinbart, doch begann die Regierung im April eine neue Offensive in Idlib.
Die Hilfsorganisation Save the Children warnte, dass Überschwemmungen und sinkende Temperaturen in Nordsyrien zehntausende geflüchtete Kinder und Familien bedrohten. Mehr als 230.000 Kinder seien derzeit extremen Wetterbedingungen ausgesetzt, was ihre Gesundheit zusätzlich gefährde. Im Nordwesten Syriens seien durch Überschwemmungen insgesamt 500 Zelte in Flüchtlingslagern zerstört worden, zahlreiche weitere Zelte seien unbewohnbar.
(Tsp, dpa, Reuters)