It's the candidate, stupid: 5 Gründe für die Niederlage von Labour
Labour erlebt eine historische Niederlage in Großbritannien und das hat etwas mit Parteichef Jeremy Corbyn zu tun. Aber nicht nur. Ein Kommentar.
Unter Jeremy Corbyn hat die britische Labour-Partei eine spektakuläre Niederlage erlitten. Seit Jahrzehnten hat die Partei nicht so schlecht abgeschnitten. Das hat Gründe:
1. It’s the candidate, stupid
Das Wahlprogramm der Labour-Partei war umfangreich. Etliche Versprechen und eine Menge Geldgeschenke steckten auf über 50 Seiten. Das Problem ist nur, dass ebenso wie in vielen anderen Ländern auch in Großbritannien nicht bedruckte Seiten gewählt werden, sondern Menschen. Allen voran der Spitzenkandidat. Und hinter Jeremy Corbyn mochten sich die Wählerinnen und Wähler nicht versammeln, nicht einmal diejenigen, die eigentlich zu Labour tendieren. Unsympathisch, wankelmütig, zum Teil sogar antisemitisch – das sind in etwa die Beschreibungen, die Corbyn zu Recht abbekommt. Seinen radikalen Linkskurs hielt kaum jemand für finanzierbar – und er selbst konnte dafür nicht glaubhaft genug stehen.
2. It’s the Brexit, stupid
Die Remainer sind doch eigentlich in der Mehrheit! Umfragen belegen sogar, dass es bei einem zweiten Referendum eine Mehrheit für einen Verbleib in der EU geben könnte! Wie also konnte es zu diesem Erdrutschsieg des Brexiteers Johnson kommen? Nun, zur Wahrheit gehört eben auch, dass es ein sehr, sehr großes Lager von Wählern gibt, die raus wollen aus der EU. Und noch größer dürfte das Lager sein, dass endlich einfach Klarheit will und ein Ende der ewigen Verhandlungen. Hinzu kommt, dass dies eben kein Referendum war, sondern eine Wahl.
Und zur Wahl stand mit Labour unter anderem eine Partei, die keine klare Linie hatte. Erst wollte sie eine Art weichen EU-Austritt, dann hat sie sich darauf verständigt, für ein zweites Referendum einzutreten. Aber ob die Partei nun für oder gegen den Brexit ist, blieb mit Corbyn an der Spitze offen. Damit hat sich Labour gleich zwei Probleme eingehandelt: Es gibt genug Briten, die ein Referendum für eine ur-demokratische Entscheidung halten, die man nicht beliebig wiederholen kann, bis das Ergebnis dem eigenen Lager passt. So etwas weckt Misstrauen gegen das Establishment. So konnte die Labour-Partei weder die vielen Pro-Europäer unter ihren Anhängern überzeugen, noch den die EU-Skeptiker für sich mobilisieren. Ihre Wahl fiel dann auf das Original: Boris Johnson.
3. It’s Boris Johnson, stupid
Für viele ist Johnson ein Polit-Irrer. Einer, dem nicht über den Weg zu trauen ist. Der sich während der Brexit-Kampagne auf die Seite der Brexiteers geschlagen hat, zumindest zu Beginn wohl weniger aus echter Überzeugung, denn aus Opportunismus. Aber anders als Corbyn ist er bei seiner Haltung geblieben und steht nun für einen klaren Weg.
Und auf eine gewisse Art und Weise ist er auch nicht unsympathisch, durchaus humorvoll, etwas verrückt – sehr britisch eben. Vor allem konnte er mit seiner Anti-Establishment-Attitüde auch bei klassischen Labour-Wählern punkten. In ehemaligen Bergbaugebieten, die bisher fest in Labour-Hand waren und das zum Teil seit über 100 Jahren, haben die Tories plötzlich Sitze gewonnen. Denn mit Corbyn stand ein Kandidat zur Verfügung, der eben keine Glaubwürdigkeit in dem Milieu hatte.
4. It’s the focus, stupid
Wie nachhaltig diese Wahl Labour beschädigt hat, lässt sich noch gar nicht sagen. Zu sehr spiegelt sich in der Wahl vor allem der Corbyn-Faktor und die Haltung zum Megathema Brexit. Und doch hatte Labour auch beim Brexit-Thema schon den schmerzhaften Spagat gespürt, denn viele sozialdemokratische Parteien in Europa spüren.
Auf der einen Seite haben sie eine Klientel, die weltoffen, liberal ist. Auf der anderen Seite gehören aber auch Menschen dazu, die Angst haben, die skeptisch sind gegenüber Brüssel – und gegenüber London. Dann gibt es jene, die in der Tat auf jede staatliche Hilfe angewiesen sind, aber auch jene, die ökonomisch etwas zu verlieren haben.
In Deutschland könnten Sozialdemokraten mit ihrem Ruf nach staatlichen Hilfen, egal, ob es um das eigene Leben oder um wirtschaftliche Hilfen für Unternehmen in Not geht, noch Erfolg haben. Hierzulande gibt es ein höheres Vertrauen in die Leistungsfähigkeit des Staates. In Großbritannien ist das nicht ganz so ausgeprägt. Doch Labour ist es nicht gelungen, eine Klammer zu formulieren. Oder sich wenigstens klar für eine Klientel zu entscheiden – eine Art All-in-Strategie.
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5. It’s the Zeitgeist, stupid
Vom Zeitgeist hätte Jeremy Corbyn fast selbst profitiert. Bei der Wahl 2017 erzielte er ein erstaunliches Ergebnis - damals als Außenseiter. Da konnte er eine Haltung einnehmen, die ihn als jemand erscheinen ließ, der alles anders machen wolle, der für einen anderen politischen Kurs stehe und der mit den Gepflogenheiten in Westminster brechen könnte.
Doch diesmal war das anders. Johnson ist sicher auch kein Außenseiter, aber er hat sich dieses Image bewahrt und vor allem hat er gezeigt, dass er tatsächlich die politischen Gepflogenheiten nur zu gerne ignoriert. So sind auch andere Akteure an die Macht gekommen. US-Präsident Donald Trump natürlich, aber auch Emmanuel Macron und auf gewisse Weise auch die dänische Premierministerin und Sozialdemokratin Mette Frederiksens.