zum Hauptinhalt
In einem Krankenhaus in Duma, nahe Damaskus, werden Menschen behandelt, die laut syrischer Opposition mit Chemie-Waffen angegriffen wurden.
© Reuters
Update

Giftgasangriff in Syrien: 355 Vergiftete - USA sammeln weiter Fakten

Die USA erhöhen nun den Druck auf das syrischen Regime. Derweil berichtet die Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen von mindestens 355 Toten durch neurotoxische Symptome. US-Präsident Obama hat sich von seinen Beratern über die Kriterien einer möglichen Intervention informieren lassen.

Nach monatelangem Zögern ziehen die USA inzwischen ein militärisches Eingreifen im Syrien-Konflikt in Betracht. Stunden nach einem Treffen von Präsident Barack Obama und dessen Sicherheitsteam hieß es in einer knappen Mitteilung, die US-Geheimdienste sammelten weiterhin in „Koordination mit internationalen Partnern“ Fakten, um einwandfrei festzustellen, was vorgefallen sei. Dabei würden auch Dutzende Augenzeugenschilderungen und Berichte über die Symptome der Getöteten beachtet. Obama habe außerdem den von ihm angeforderten detaillierten Überblick über eine Reihe von möglichen Optionen für die USA und die internationale Gemeinschaft erhalten, „um auf den Einsatz von chemischen Waffen zu antworten“.

Wie weiter mitgeteilt wurde, telefonierte der Präsident am Samstag auch mit dem britischen Premierminister David Cameron. Dabei hätten beide ihre „tiefe Besorgnis“ über den angeblichen Einsatz von Chemiewaffen am 21. August geäußert. Die USA und Großbritannien blieben in engen Konsultationen, was diesen Vorfall und die möglichen internationalen Reaktionen beträfen.

Der französische Außenminister Laurent Fabius sagte dagegen während eines Aufenthaltes in der palästinensischen Stadt Ramallah: „Alle Informationen, die uns momentan zur Verfügung stehen, deuten darauf hin, dass in Syrien unweit von Damaskus ein Massaker mit chemischen Waffen stattgefunden hat und dass das Regime von Baschar al-Assad dahinter steckt.“

Die Hohe Repräsentantin der Vereinten Nationen für Abrüstung, Angela Kane, traf am Samstag in Damaskus ein. Sie soll einen Zugang der UN-Chemiewaffeninspekteure zu den angeblich bombardierten Dörfern aushandeln. Bislang wurde den Experten, die sich bereits seit dem vergangenen Sonntag in Syrien aufhalten, mit Hinweis auf die andauernden Kämpfe nicht erlaubt, die betroffenen Bezirke zu besuchen.

Kriterien für eine Intervention

Aus der Sicht von Präsident Barack Obama muss eine Intervention zwei Kriterien gleichzeitig erfüllen. Einerseits soll ein Angriff die militärischen Fähigkeiten der Führung in Damaskus schwächen und Präsident Baschar al Assad nach dem mutmaßlichen Giftgaseinsatz vor einigen Tagen eine unmissverständliche Botschaft senden. Andererseits will Obama unter allen Umständen vermeiden, dass die USA in einen neuen Krieg im Nahen Osten gezogen werden. Diese beiden Leitlinien bilden den Korridor für die militärischen Optionen der Supermacht, die derzeit beraten werden. Eine Einsatz-Form dürfte deshalb von vornherein ausgeschlossen sein: Eine massive Entsendung von Bodentruppen, die in Syrien die Kontrolle über Teile des Staatsgebietes übernehmen könnten, wird es wohl nicht geben. Denn dies würde auf eine langwierige, gefährliche und sehr teure Operation hinauslaufen, die zudem eine Ausweitung des Krieges mit sich bringen könnte. Im Syrien-Konflikt mischen bereits der Iran, die libanesische Hisbollah und das Terrornetzwerk Al Qaida mit.

Ärzte ohne Grenzen: mindestens 355 Tote

Die Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen (MSF) berichtete von mindestens 355 Patienten mit „neurotoxischen Symptomen“, die in syrischen Krankenhäusern gestorben seien. Insgesamt seien am Mittwochmorgen, als sich die Chemiewaffeneinsätze nahe Damaskus ereignet haben sollen, binnen drei Stunden rund 3600 Menschen mit derlei Anzeichen in drei Kliniken eingeliefert worden.
Als Beispiele für die Symptome der Patienten nannte die Organisation Krämpfe, vermehrten Speichelfluss, extrem verengte Pupillen sowie schwere Atemprobleme. MSF wies aber darauf hin, keine Aussage darüber treffen zu können, wer für den mutmaßlichen Einsatz des Gifts verantwortlich sei. Außerdem könne die Organisation den „Grund für diese Symptome nicht wissenschaftlich bestätigen“. Die Symptome legten einen „Kontakt mit einem neurotoxischen Mittel“ aber nahe.

Dauerhafte Einrichtung auf syrischem Gebiet unwahrscheinlich

Eine US-Aktion zur dauerhaften Einrichtung von militärisch gesicherten Schutzzonen auf syrischem Gebiet ist unwahrscheinlich. Die Türkei und die syrische Opposition fordern solche innersyrischen Rückzugsräume für Bürgerkriegsflüchtlinge und Deserteure der syrischen Armee schon seit langem. Doch ein solcher Schritt würde ein UN-Mandat erfordern, das wegen der Parteinahme Russlands für Präsident Assad nicht zustande käme. Auch wenn eine Schutzzone oder eine Invasion wie im Golf-Krieg gegen Saddam Hussein vor zehn Jahren ausgeschlossen erscheinen, dürften sich Mitglieder von US-Spezialeinheiten dennoch bereits in Syrien aufhalten.

Nach Presseberichten verlautete aus amerikanischen Regierungskreisen, dass die Ziele eines möglichen US-Angriffs – Militäreinrichtungen und wichtige Regierungsgebäude – bereits exakt geortet seien. Das legt nahe, dass Fernspäher-Einheiten, die auf sich gestellt Informationen sammeln und an die US-Planer weitergeben, bereits in Syrien sind. Da der massive Bodentruppen-Einsatz nicht in Frage kommt, bleibt den USA noch die Option von Maßnahmen aus der Luft. Dafür hat das hochmoderne US-Militär mehrere Möglichkeiten.

Möglich sind auch Angriffe mit Kampfflugzeugen wie im Kosovo-Krieg 1999.

Die amerikanischen Kriegsschiffe im östlichen Mittelmeer, deren Zahl derzeit von drei auf vier erhöht werden, verfügen über Marschflugkörper vom Typ Tomahawk, die bereits vor zwei Jahren zur Unterstützung des Aufstandes gegen Muammar al Gaddafi in Libyen eingesetzt wurden. Die Tomahawks haben eine Reichweite von 2500 Kilometern und können von See aus syrische Artilleriestellungen, Giftgasfabriken, Befehlszentralen und Regierungseinrichtungen zerstören. Möglich sind auch Angriffe mit Kampfflugzeugen wie im Kosovo-Krieg 1999.

US-Jets könnten in der Türkei starten

Die amerikanischen Jets könnten unter anderem von der Luftwaffenbasis Incirlik in der Türkei aus starten, die nur etwa 100 Kilometer von der syrischen Grenze entfernt liegt. Auch bei Syriens südlichem Nachbarn Jordanien sind derzeit US-Kampfjets stationiert. Ein Einsatz der im Süden der Türkei aufgestellten Patriot-Raketenabwehrsysteme der Bundeswehr, der US-Armee und der Niederlande ist dagegen wenig wahrscheinlich. Die Nato hatte bei der Stationierungsentscheidung Ende vergangenen Jahres mehrfach den rein defensiven Charakter der Mission betont. Allerdings könnten die Patriots zum Einsatz kommen, falls die Syrer ihre C-Waffen-Raketen in Richtung Türkei abschießen sollten.

Ein Sturz Assads liegt weit außerhalb der derzeitigen Möglichkeiten

Ob Schläge durch seegestützte Tomahawks, ein Bombardement durch Kampfflugzeuge oder eine Mischung aus beiden Instrumenten – eine mögliche US-Militäraktion gegen Assad wird klare zeitliche und operationelle Grenzen haben. Ein Sturz des syrischen Präsidenten wird aller Wahrscheinlichkeit weit außerhalb dieser Grenzen liegen. Dagegen sind die Zerstörung syrischer Raketenrampen und -depots, Angriffe auf den syrischen Präsidentenpalast und auf Leitzentren von Armee und Geheimdienst sowie eine Lähmung der Luftabwehr zum Schutz angreifender US-Jets zu erwarten. Ganz alleine wollen die USA zudem nicht handeln. In den kommenden Tagen trifft sich US-Generalstabschef Martin Dempsey mit seinen Kollegen aus Deutschland, der Türkei, Saudi-Arabien, Katar, Jordanien, Großbritannien, Frankreich, Italien und Kanada in der jordanischen Hauptstadt Amman. Alle vertretenen Länder gehören zu den Gegnern Assads und zu den Unterstützern der syrischen Opposition. Bei dem bereits seit Wochen geplanten Treffen dürfte es um etwaige Beiträge der US-Verbündeten zu einer möglichen Intervention und um mögliche Folgen für syrische Nachbarn wie Jordanien und die Türkei gehen. (mit dpa)

Zur Startseite