zum Hauptinhalt
Angela Merkel beim Besuch des Biontech-Werks - die Kanzlerin setzt auf eine höhere Impfbereitschaft.
© Arne Dedert/AFP

Sorge vor vierter Corona-Welle steigt: „2G“ und eine Lehrer-Impfpflicht sind kein Tabu mehr

Weg von bisherigen Inzidenzregeln, aber Schulen und Kitas können die neuen Hotspots werden. Daher wird der Druck auf Ungeimpfte verstärkt. Hamburg geht voran.

Es ist kein Zufall, dass die Regierung einen Monat vor der Bundestagswahl ihre Corona-Politik grundlegend ändert. Die SPD war schon länger dafür, nun spricht sich auch Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) dafür aus: Den Inzidenz-Grenzwert für Einschränkungen von 50 Neuinfektionen je 100.000 Einwohner will man aufgeben – und Unions-Kanzlerkandidat und NRW-Ministerpräsident Armin Laschet verspricht flankierend, es werde keinen Lockdown mehr geben.

Zur Erinnerung: Nordrhein-Westfalen hat gerade mit über 100 die höchste Inzidenz bundesweit. Um das Kein-Lockdown-Versprechen zu halten, muss daher die Zahl der Geimpften rasch steigen – und es braucht mehr Prävention, die neuen Regeln für Geimpfte, Genesene und Getestete sollen dies garantieren. Vor allem der Druck auf Nicht-Geimpfte wird stetig erhöht – Hamburg wählt dabei ein neues 2G-Optionsmodell.

Welche Probleme bringt der Corona-Herbst?

Für Kinder unter zwölf Jahren wird es in diesem Jahr nach aller Voraussicht keinen Impfschutz vor Corona mehr geben, selbst wenn die Studien von Biontech/Pfizer, Moderna und anderen Herstellern in diesem Jahr noch abgeschlossen werden sollten. Damit bleibt diese Altersgruppe weiter ungeschützt.

Allerdings erkranken Kinder vergleichsweise selten schwer an Covid-19 und machen zahlenmäßig nur etwa zehn Millionen der Bevölkerung in Deutschland aus. Sie können das Virus jedoch weitergeben, etwa an ihre Eltern, die in der Regel in die Altersgruppe der 18 bis 59-Jährigen fallen. Das sind gut 45 Millionen Menschen, von denen fast die Hälfte noch nicht geimpft ist.

Diese Altersgruppe ist daher für eine hochansteckende Corona-Variante wie Delta ein leichtes Ziel, da in dieser Bevölkerungsgruppe Vorerkrankungen, die großen Einfluss auf die Schwere einer Covid-19-Erkrankung haben, schon relativ weit verbreitet sind. Auch in der diesbezüglich besonders vulnerablen Gruppe der über 60-Jährigen sind circa vier Millionen Menschen noch immer nicht geimpft.

[Wenn Sie die wichtigsten News aus Berlin, Deutschland und der Welt live auf Ihr Handy haben wollen, empfehlen wir Ihnen unsere runderneuerte App, die Sie hier für Apple- und Android-Geräteherunterladen können.]

Um besonders viele Menschen vor Tod und schwerer Erkrankung zu bewahren, müssten sich Schutzmaßnahmen also gezielt an diese, die ungeimpften Gruppen der Bevölkerung, wenden. Dabei kommt den 18- bis 59-Jährigen epidemiologisch nicht nur wegen der hohen Zahl der Ungeimpften eine große Bedeutung zu, sondern auch weil unter ihnen die Altersgruppe der jungen Erwachsenen zu finden ist, die die meisten Kontakte zu anderen Menschen hat und daher das Virus bei Ansteckung breiter streut als andere Gruppen.

Mit welchen Maßnahmen ließen sich neue Rückschläge vermeiden?

Die beste Maßnahme wäre eine größtmögliche Durchimpfung der Bevölkerung – ob nun mittels Kommunikationsoffensive, mithilfe von Anreizen wie etwa Kulturevents nur für Geimpfte oder auch Impfgeboten für kontaktrelevante Berufe wie etwa in der Pflege. Damit wären zumindest indirekt auch jene Teile der Bevölkerung geschützt, die bislang nicht geimpft werden können. Je mehr Menschen geimpft sind, umso geringer ist die Wahrscheinlichkeit, dass das Virus an Ungeschützte weitergegeben werden kann.

Zwar können die bisherigen Impfstoffe eine Ansteckung mit der derzeit vorherrschenden Delta-Variante nicht gänzlich verhindern, wohl aber ist die Gefahr der Ansteckung und auch die Infektiosität für andere deutlich reduziert, da die Menge der potenziell infektiösen Viren bei geimpften Infizierten geringer ist als bei ungeimpften Infizierten. Auf Abstands- und andere nichtmedizinische Eindämmungsmaßnahmen kann trotzdem noch nicht verzichtet werden. Das zeigt die Erfahrung Israels, wo zwar große Teile der Bevölkerung doppelt geimpft sind, aber dennoch die vierte Welle anrollt.

Warum sind Kitas und Grundschulen besondere „Sorgenkinder“?

In Grundschulen und Kitas wird das Problem, dass die Kinder nicht geimpft sind, mindestens im Herbst und Winter weiter bestehen bleiben. Jenseits vom Tragen von Masken und dem Aufstellen von Luftfiltern oder Lüftung wird man dort spätestens bei hohen Inzidenzen in dieser Altersgruppe wieder auf verstärkte Distanzmaßnahmen setzen müssen.

Die Frage, die die Politik alsbald beantworten muss, ist, ab wann derartige Maßnahmen (wieder) nötig sind. Oder anders formuliert: Wie viele Covid-19-infizierte und -erkrankte Kinder sind okay, damit das Gros der Kinder normalen Unterricht, normales Leben genießen kann? Oder wie viele Kinder sind akzeptabel, die mit Langzeitfolgen einer Corona-Infektion zu kämpfen haben werden, auch wenn derzeit kaum jemand ihre Zahl genau benennen oder beziffern kann?

[Jeden Morgen informieren wir Sie, liebe Leserinnen und Leser, in unserer Morgenlage über die politischen Entscheidungen, Nachrichten und Hintergründe. Zur kostenlosen Anmeldung geht es hier.] 

Denn selbst wenn schwere Erkrankungen, Long Covid und PIMS bei Kindern nur selten vorkommen, werden bei einer in Kauf genommenen Durchseuchung der etwa zehn Millionen Kinder unter zwölf Jahren womöglich 100.000 Kinder in den Kliniken landen, wenn man eine Hospitalisierungsrate von etwa einem Prozent heranzieht: In den USA werden der Amerikanischen Akademie für Pädiatrie zufolge derzeit 0,2 bis 1,9 Prozent aller Covid-19-Fälle bei Kindern in Kliniken eingewiesen – Tendenz steigend.

Die US-Seuchenbehörde CDC warnte davor, dass auch junge Kinder ein Risiko für schwere Verläufe haben. Die Rate der Covid-19-assoziierten Hospitalisierungen von Kindern unter fünf Jahren habe sich in der ersten Juli-Hälfte verdreifacht. Die CDC fügte hinzu, dass Impfungen der Älteren auch die Ansteckung von ungeimpften Kindern verhindern helfe, die noch nicht geimpft werden können.

Schulunterricht in Pandemiezeiten - wie kann hier eine "Durchseuchung" verhindert werden?
Schulunterricht in Pandemiezeiten - wie kann hier eine "Durchseuchung" verhindert werden?
© picture alliance/dpa

Warum rückt die Regierung trotzdem von ihrer bisherigen Inzidenz-Linie ab?

Der Wert 50 sei bei einer ungeimpften Bevölkerung sinnvoll gewesen, sagt Gesundheitsminister Spahn. Bisher sind bei Überschreitung dieser Inzidenz „umfassende Schutzmaßnahmen zu ergreifen, die eine effektive Eindämmung des Infektionsgeschehens erwarten lassen“. Inzwischen sind gut 49 Millionen Bürger komplett geimpft, das sind 59 Prozent.

Um die Pandemie zu überwinden, hält das Robert Koch-Institut (RKI) eine Quote von 85 Prozent für notwendig. Da wegen des Schutzes viel weniger Menschen mit einer Covid-Infektion im Krankenhaus oder auf der Intensivstation landen, soll das Infektionsschutzgesetz noch vor der Wahl so geändert werden, dass die regionale Hospitalisierungsrate entscheidend ist für neue Einschränkungen.

[Behalten Sie den Überblick: Jeden Morgen ab 6 Uhr berichten Chefredakteur Lorenz Maroldt und sein Team im Tagesspiegel-Newsletter Checkpoint über die aktuellsten Entwicklungen rund um das Coronavirus. Jetzt kostenlos anmelden: checkpoint.tagesspiegel.de.]

Nach Angaben des Gesundheitsministeriums liegt diese derzeit bei 1,3 pro 100.000 Personen binnen sieben Tagen. Auf dem Höhepunkt der Pandemie habe sie in Deutschland bei mehr als zehn gelegen. Aber die Lockerung ist umstritten: „Wer jetzt die Inzidenz komplett aus dem Gesetz streicht, anstatt sie um weitere Faktoren zu ergänzen, will nicht primär die vierte Welle eindämmen, sondern unpopuläre Entscheidungen vor der Wahl verhindern“, kritisiert der Grünen-Gesundheitspolitiker Janosch Dahmen.

Gerade an Kitas und Schulen könnten die Regelungen zu einer stärkeren „Kinderdurchseuchung“ führen wenn die bisherigen Werte nicht mehr gelten sollen, also dadurch auch länger Präsenzunterricht auch bei stark steigenden Inzidenzen aufrecht erhalten wird.

Wie wird der Impfdruck erhöht?

Seit diesem Montag gilt bundesweit die 3G-Regel. Egal ob im Restaurant, im Fußballstadion, im Krankenhaus, Pflegeheim, im Theater, Schwimmbad, Fitnessstudio oder beim Frisör – jeder Besucher muss geimpft, genesen oder getestet sein.

Da ab Oktober die Tests kostenpflichtig werden, sollen bisher Ungeimpfte verstärkt zum Nachdenken bewegt werden. Sie brauchen nun für den Zutritt vielerorts einen Antigen-Schnelltest, der nicht älter ist als 24 Stunden, oder einen PCR-Test, der nicht älter ist als 48 Stunden. Diese Regeln gelten überall, wo der Inzidenzwert bei mindestens 35 liegt – sie können aber auch schon bei niedrigeren Werten verhängt werden.

Eintritt für Getestete, Geimpfte und Genesene im Berliner KitKat-Club - gilt bald nur noch die 2g-Regel?
Eintritt für Getestete, Geimpfte und Genesene im Berliner KitKat-Club - gilt bald nur noch die 2g-Regel?
© Sean Gallup/Getty Images

Die Politik scheut sich vor der 2G-Regel, aber sie kommt schrittweise trotzdem – warum?

In Regierungskreisen wird darauf gesetzt, dass die Privatwirtschaft das regelt. Da gerade in Teilen Ostdeutschlands die Impfbereitschaft niedriger als erwartet ist, soll nicht durch eine politische 2-G-Entscheidung – also Zutritt nur noch für Geimpfte und Genesene – der Druck erhöht werden. Das würde nur der AfD in die Hände spielen, heißt es.

Aber wenn sich die Infektionslage verschärft, kann sich automatisch 2G durchsetzen, denn das mindert deutlich die Gefahr von größeren Ausbrüchen und Massen-Quarantänen, mithin auch das wirtschaftliche Risiko für Gastronomen und Veranstalter.

Auch Bundesligisten wie Borussia Dortmund und Bayer Leverkusen praktizieren bereits die 2G-Regel. Hinzu kommen entsprechende Urteile wie zur Aufhebung des Tanzverbots für Geimpfte und Genesene in Berlin.

Was könnte Schule machen?

Hamburgs Erster Bürgermeister Peter Tschentscher (SPD) geht mit seinem Senat einen Sonderweg: Volle Kinos, Kneipen, Theater, keine Sperrstunde mehr – ab Samstag ist das in der Hansestadt wieder möglich, sofern die Veranstalter und Wirte nur Geimpfte und Genesene einlassen. Der rot-grüne Senat beschloss am Dienstag das sogenannte 2G-Optionsmodell, wonach Veranstalter entscheiden können, ob sie künftig nur noch Geimpfte und Genesene einlassen und dann weitgehend von den Corona-Einschränkungen befreit sind, oder ob sie weiter das 3G-Modell nutzen wollen. Dieses bezieht Getestete, also Ungeimpfte, mit ein, unterliegt aber bisherigen Corona-Einschränkungen.

Tschentscher betont, Geimpfte und Genesene hätten im Vergleich zu den Ungeimpften keinen wesentlichen Anteil am Infektionsgeschehen. Die Sieben-Tage-Inzidenz in Hamburg liege bezogen auf die Gesamtbevölkerung bei Ungeimpften bei 78,12, bei Geimpften aber nur bei 3,36.

Klar ist: Für Geimpfte und Genesene wäre ein neuer Lockdown kaum zu rechtfertigen, die FDP pocht für diese Gruppe auch auf eine Lockerung der Maskenpflicht.

Der SPD-Gesundheitspolitiker Karl Lauterbach betont mit Blick auf Nordrhein-Westfalen und die dortigen hohen Inzidenzen, es gehe nun um die Entscheidung, es laufen zu lassen, weil es „nur“ Ungeimpfte seien „oder mit möglichst viel 2G dagegen zu halten und so die Impfquote zu erhöhen“.

Nicht immer einig in Sachen Corona-Kurs: Armin Laschet und Angela Merkel.
Nicht immer einig in Sachen Corona-Kurs: Armin Laschet und Angela Merkel.
© Federico Gambarini/Pool via REUTERS

Aber nicht nur wegen der bevorstehenden Bundestagswahl, auch aus grundsätzlichen juristischen Erwägungen heraus, scheut die Bundesregierung ebenso wie zum Beispiel NRW-Ministerpräsident Laschet eine politische 2G-Vorgabe, also den generellen Ausschluss von negativ Getesteten.

„Ich sehe nicht, wie man eine derart schwerwiegende Beschränkung mit dem Infektionsschutz rechtfertigen könnte“, sagte Justizministerin Christine Lambrecht (SPD) der „Welt“. „Jeder Eingriffe in Freiheitsrechte muss gut begründet und verhältnismäßig sein.“ Es sei ein Unterschied, ob ein Gastronom im Rahmen seiner Vertragsfreiheit nur Geimpfte und Genesene bedient oder ob der Staat das vorgibt. Ein Arbeitgeber dürfe jedoch keinen Mitarbeiter entlassen, wenn der sich nicht impfen lässt. Aber der Arbeitgeber könne diesen Beschäftigten andere Aufgaben zuweisen.

Bleibt eine Impfpflicht ausgeschlossen?

Klare Linie von Kanzlerin Angela Merkel (CDU) ist es, eine Impfpflicht nicht zu verfügen. Aber Grünen-Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock hat in der ARD nun betont, dass bei einer drastischen Verschlimmerung der Lage über eine Teil-Impfpflicht diskutiert werden müsse. Die Grünen-Chefin verwies auf die Situation in den Schulen und auf Kinder, die wegen ihres jungen Alters noch nicht geimpft werden könnten. „Man muss sich ja vorstellen, was sind die Alternativen. Und wenn die Alternative ist, harter Lockdown, Kitas und Schulen wieder komplett zu – was echt ein Desaster für viele Familien war –, dann müssen alle anderen Alternativen mit auf den Tisch.“

Unterstützung bekommt Baerbock hier von dem Verfassungsrechtler Christoph Möllers. „Es gibt kein Recht für Lehrkräfte, ungeimpft zu unterrichten“, sagte er der „Rheinischen Post“. Und ergänzte mit Blick auf die in Frankreich eingeführte Impfpflicht für Pflegerinnen und Pfleger: „Gerade im Pflegebereich gibt es verfassungsrechtlich wenig Gegenargumente.“

Zur Startseite