Flüchtlinge: 280.000 Asylsuchende - Flüchtlingszahl sinkt um zwei Drittel
Der Flüchtlingszustrom nach Deutschland war 2016 weit kleiner als im Vorjahr. Dafür gab es mehr Asylanträge - denn die Verfahren begannen oft erst mit zeitlichem Abstand zur Einreise.
Die Zahlen fürs 2015, dem Höhepunkt der Flucht nach Europa, sind erst seit wenigen Wochen geklärt. Die für 2016 konnten Bundesinnenminster Thomas de Maizère und Frank-Jürgen Weise, der scheidende Chef des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge, jetzt nur ein paar Tage nach dem Jahreswechsel präsentieren. Lediglich 280.000 Menschen sind demnach in der Hoffnung auf Asyl im vergangenen Jahr nach Deutschland gekommen, also nicht einmal ein Drittel jener 890.000 Neuankömmlinge, die im Jahr zuvor verzeichnet wurden. Der Flüchtlingskoordinator der Bundesregierung, Kanzleramtsminister Peter Altmaier, äußerte die Erwartung, dass es bei diesen niedrigen Zahlen auch in diesem Jahr bleiben werde.
EU-Türkei-Deal und Abriegelung der Balkanroute als Gründe
Dass es diesmal so rasch verlässliche Daten gibt, liegt nicht zuletzt an deren modernerer Verarbeitung. Das neue „Kerndatensystem“ ermögliche es, die Zahl der Asylsuchenden inzwischen „scharf wiederzugeben“, sagte der Minister bei der Vorstellung am Mittwoch. Wegen nicht kompatibler Datenverarbeitung in Bund, Ländern und diversen Behörden gab es lange doppelte Registrierungen oder es fiel nicht auf, wenn Einzelne sich unter verschiedenen Identitäten an verschiedenen Orten meldeten. Inzwischen nehmen alle amtlichen Stellen Fingerabdrücke, die von allen anderen Behörden gelesen werden können. Dass außerdem der Stau unbearbeiteter oder nicht einmal angenommener Asylanträge verringert, wenn auch noch nicht ganz abgebaut wurde, dafür war die massive Aufstockung des Personals des Nürnberger Bundesamts verantwortlich. 2016 war die Zahl der Vollzeitstellen auf 7.300 gewachsen, eine Verdreifachung innerhalb nur eines Jahres. Dass die Asylbewerberzahlen so drastisch gesunken sind, dafür allerdings waren, wie der Minister offen sagte, die noch höheren Schranken verantwortlich, die Flüchtlinge inzwischen überwinden müssen, um in Europas Mitte und Norden zu kommen: De Maizière nannte die Schließung der Balkanroute und das EU-Türkei-Abkommen. Seit Anfang März 2016 schlossen die Balkanstaaten Slowenien, Kroatien, Mazedonien und Serbien ihre Grenzen für Menschen ohne Visum. Das Abkommen mit der Türkei trat wenig später, am 20. März, in Kraft. Die Türkei erklärte sich damit einverstanden, Flüchtlinge zurückzunehmen, die von türkischem Territorium aus nach Griechenland gekommen waren und dort als nicht asylberechtigt eingestuft wurden. Im Gegenzug sollten asylberechtigte Syrer aus der Türkei legal in die EU kommen können; Ankara wurden dafür Milliardenhilfen, Visaerleichterungen für türkische Bürger und Fortschritte in den Beitrittsverhandlungen zur EU versprochen.
Pro Asyl: Rigorose Abschottungspolitik
Auch das Recht der Flüchtlinge, ihre Familien nachkommen zu lassen, ist im letzten Jahr massiv eingeschränkt worden. De Maizière gab auf Nachfrage zu, dass dies die Integration gerade alleinstehender junger Männer erschwere, die oft diejenigen sind, die sich nach Europa durchschlagen müssen. Es sei aber die „inhumanste“ Politik, wenn „de facto kriminelle Schleuser und das Portemonnaie der Flüchtenden“ darüber entschieden, wer nach Europa komme und wer nicht. Bis zur Bundestagswahl im September werde es bei der Einschränkung des Familiennachzugs erst einmal bleiben, etliche Obergerichte hätten der Bundesregierung darin auch Recht gegeben. Die Flüchtlingshilfsorganisation Pro Asyl kritisierte die Flüchtlingspolitik Europas am Mittwoch erneut: Dass die Zahl Asylsuchender in einem Jahr drastisch, nämlich um 68,5 Prozent gesunken sei, liege nicht daran, dass in deren Heimatländern die Verhältnisse besser würden, sondern an einer „rigorosen Abschottungspolitik“. Rund zwei Drittel der Neuankömmlinge stammten aus Syrien, Afghanistan, Iran und Eritrea, also aus Staaten, in denen es Krisen gebe oder sogar Krieg herrsche. Der Innenminister wies den Vorwurf zurück. Nach wie vor flüchteten Menschen über den Balkan. Er könne „nicht erkennen“, wie 280.000 Flüchtlinge in einem Jahr und eine Quote von 62 Prozent, die auch Schutz erhielten, „irgendetwas mit Abschottung zu tun“ hätten. Während weniger Menschen es nach Deutschland schafften, stieg gleichzeitig die Zahl der Asylanträge, auf 745.000 im letzten Jahr – damit zu erklären, dass viele, die wegen Überforderung der Ämter dies 2015 nicht schafften, die Anträge erst im Jahr darauf einreichten. Frank-Jürgen Weise, für den der Auftritt am Mittwoch der letzte als Bamf-Chef war, dankte seiner Behörde: Nicht er sei Deutschlands oberster Flüchtlingsmanager, sondern alle, die im letzten Jahr geschafft hätten, dass Flüchtlinge im Land inzwischen so aufgenommen werden könnten, „wie das von einem zivilisierten Land zu erwarten ist“. Weise, der zugleich auch die Bundesanstalt für Arbeit weiter geleitet hatte, übergibt sein Amt am Donnerstag förmlich an seine Nachfolgerin Jutta Cordt.
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