Bundestagswahl: 10 Probleme, die jede Regierung anpacken muss
In den Wahlprogrammen der Parteien wird alles Mögliche versprochen. Doch was sind die Missstände, die die Menschen wirklich umtreiben?
- Cordula Eubel
- Rainer Woratschka
- Maria Fiedler
- Antje Sirleschtov
- Carsten Werner
1. Auf sich gestellt: Die Not der Alleinerziehenden
Mal wieder knapp bei Kasse, für die Freunde bleibt zu wenig Zeit und der Nachbar schaut einen schief an: Alleinerziehende stehen in Deutschland unter besonderem Druck. Vor allem, so lange die Kinder noch klein sind. Dabei sind sie längst keine Randerscheinung mehr: Von den 8,2 Millionen Familien mit minderjährigen Kindern ist jede fünfte alleinerziehend, insgesamt 1,6 Millionen. Meistens kümmern sich die Mütter überwiegend um den Nachwuchs.
Statistisch gesehen haben Alleinerziehende ein überdurchschnittlich hohes Armutsrisiko: Im Jahr 2016 waren 42 Prozent der Alleinerziehenden-Haushalte in Westdeutschland armutsgefährdet, im Osten sogar 47 Prozent, wie Erhebungen des Statistischen Bundesamts zeigen. Das liegt auch daran, dass viele alleinerziehende Mütter Teilzeit arbeiten, nur jede Vierte hat einen Vollzeitjob. Das schlägt sich im Einkommen nieder: 44 Prozent der Mütter haben ein Nettoeinkommen von weniger als 1500 Euro im Monat. Bei den Vätern sieht es anders aus: Hier haben 62 Prozent einen Vollzeitjob. Dass alleinerziehende Mütter häufig nur eine Teilzeitstelle haben, hat zum einen damit zu tun, dass es immer noch an flexibler und passender Kinderbetreuung fehlt. Hinzu kommt: Ein großer Teil der Mütter hat schon vor der Trennung Teilzeit gearbeitet, für sie ist es oft schwierig, eine Vollzeitstelle zu bekommen.
Die direkte Unterstützung von Familien läuft über Kindergeld und Kinderfreibetrag. Gutverdiener profitieren davon stärker als Geringverdiener – das benachteiligt im Normalfall Alleinerziehende. Für Eltern, die wegen der Kinder in Hartz IV rutschen würden, gibt es den Kinderzuschlag von maximal 170 Euro, doch dieser ist äußerst bürokratisch. Und vom Ehegattensplitting profitieren zwar kinderlose Paare, Alleinerziehende aber nicht.
Die Union will das Kindergeld um 25 Euro pro Monat erhöhen und die Freibeträge anheben, letzteres fordert auch die FDP. Die SPD will für einkommensschwache Familien das Kindergeld mit dem Kinderzuschlag zusammenlegen und im Steuerrecht einen Familientarif mit einem Kinderbonus von 150 Euro einführen. Die größten Änderungen in der Familienförderung planen Grüne und Linkspartei, die langfristig eine Kindergrundsicherung fordern. Als ersten Schritt planen die Grünen einen Kindergeld-Bonus, der mit steigendem Einkommen sinkt, während die Linke das Kindergeld für alle anheben will. Die AfD will keine „bedingungslose“ Unterstützung Alleinerziehender, sondern unterscheiden, ob diese Lebenssituation „schicksalhaft, durch Selbstverschulden oder auf Grund eigener Entscheidungen“ zustande gekommen sei.
Zweiklassensystem im Wartezimmer
2. Zweiklassensystem im Wartezimmer
Wenn Kassenpatienten ein MRT oder einen Termin beim Kardiologen benötigen, kann das schon mal zwei bis drei Monate dauern. Bei Privatversicherten geht es im Regelfall deutlich schneller. Kein Wunder, denn die Ärzte dürfen ihnen für gleiche Leistung deutlich höhere Honorare in Rechnung stellen – und zudem aufwändigere Diagnose- und Behandlungsverfahren andienen.
Eine aktuelle Studie beziffert den Mehrumsatz durch Privatpatienten auf 12,5 Milliarden Euro im Jahr. An gefragte Spezialisten kommen gesetzlich Versicherte deshalb oft gar nicht mehr heran. Und wegen dieses Zwei-Klassen-Systems verteilen sich die Mediziner auch sehr ungleich im Land: In ländlichen Regionen, wo es kaum Privatversicherte, aber oft sehr viel mehr alte Menschen gibt, fehlen die dringend benötigten Fachärzte. In Ballungszentren und wohlsituierten Speckgürteln reiht sich eine Praxis an die andere.
Union und FDP wollen beim bisherigen Nebeneinander von gesetzlichen und privaten Krankenversicherten bleiben, versprechen aber, die ärztliche Versorgung in ländlichen Regionen zu sichern. SPD, Grüne und Linkspartei dagegen kämpfen für eine Bürgerversicherung, in die auch Beamte, Politiker und Selbständige einzahlen. Am radikalsten sind hier die Linken, sie wollen die PKV komplett abschaffen.
SPD und Grüne möchten die bisher privat Versicherten selber über einen Wechsel entscheiden lassen. Um die Ungleichbehandlung von Privat- und Kassenpatienten verlässlich zu beenden, sollen die Ärzte ihrer Vorstellung nach aber nur noch nach einer einheitlichen Honorarordnung abrechnen dürfen. Die Linke setzt zur Sicherung der ambulanten Versorgung zudem, wie in der DDR, auf ein flächendeckendes Angebot von Polikliniken mit angestellten Ärzten. Und die AfD hat das Thema Zweiklassenmedizin überhaupt nicht auf dem Schirm.
Breitband-Internet
3. Durchs Netz in Kriechgeschwindigkeit
Der Download dauert Stunden, die Videokonferenz ist eine Qual und die E-Mail mit Anhang steckt im Postausgang fest: Weil der Breitbandausbau stockt, sind viele Menschen auf dem Land nur mit Kriechgeschwindigkeit im Internet unterwegs. Dass sie keine Serien bei Netflix anschauen können, ist das geringste Problem.
Für mittelständische Unternehmen im Schwarzwald, Ostbayern und Brandenburg ist langsames Internet geschäftsschädigend. Bei der durchschnittlichen Netzgeschwindigkeit liegt die Bundesrepublik mit 15Mbit/Sekunde laut einer Erhebung des Internetunternehmens Akamai weltweit auf Platz 25. Hinter Bulgarien, Rumänien und Tschechien. Und das obwohl die Bundesregierung versprochen hat, dass ganz Deutschland bis 2018 mit 50Mbit/Sekunde unterwegs sein soll. Doch von den 2015 bis 2017 für den Breitbandausbau bereitgestellten 1,56 Milliarden sind bislang nur 0,9 Prozent abgerufen worden.
Experten befürchten ohnehin, dass das Aufrüsten der alten Kupferleitungen nicht die Lösung für die Zukunft ist, sondern schnelle Glasfaserleitungen hermüssen. Damit sind aber bislang nur 7,1 Prozent der Haushalte versorgt.
Die CDU will den Ausbau flächendeckender Glasfaserinfrastruktur bis 2025, die SPD im selben Zeitraum „mehr als 90 Prozent aller Gebäude“ an Gigabitnetze anschließen. Die Grünen fordern Glasfaser an jeder Haustür. Eine öffentliche Netzgesellschaft soll den Ausbau unterstützen.
Die FDP plant, zur Stärkung der „Gigabit-Gesellschaft“ die staatlichen Aktienbeteiligungen an der Telekom vollständig zu privatisieren. Die Linke möchte dagegen die Telekominfrastruktur in öffentliches Eigentum überführen. Und die AfD würde alle innerhalb von zwei Jahren an „schnelle Breitbandnetze“ anschließen.
Mietsteigerungen
4. Wenn die Miete das Gehalt auffrisst
Ob in Berlin, Hamburg oder München – die Trends sind überall die gleichen: Bezahlbare Wohnungen in zentraler Lage sind zur Mangelware geworden. In einigen Vierteln werden alteingesessene Mieter verdrängt, weil sie die steigenden Preise nicht mehr bezahlen können. Und trotz niedriger Zinsen können sich auch Teile der Mittelschicht kein Wohneigentum leisten. Probleme, die nicht nur in den Großstädten auftreten, sondern auch in Universitätsstädten wie Freiburg oder Münster, in denen sich ebenfalls der Zuzug vom Land bemerkbar macht.
Wohnen wird zur sozialen Frage: Bei Menschen mit geringeren Einkommen fällt die Miete besonders ins Gewicht, wie Daten des Statistischen Bundesamts aus dem Jahr 2014 zeigen. In Haushalten mit einem Nettoeinkommen von bis zu 900 Euro im Monat gingen im Schnitt zum Teil deutlich mehr als 40 Prozent für die Miete drauf. Bei Einkommen bis zu 1300 Euro netto waren es immerhin noch mehr als 30 Prozent. Zuletzt hat auch die Mietpreisbremse der großen Koalition wegen ihrer Schlupflöcher keine richtige Wirkung entfaltet.
Bundesweit fehlen laut Schätzungen rund eine Million Wohnungen. Trotz des Baubooms kommen nicht genügend Wohnungen auf den Markt, vor allem Sozialwohnungen fehlen. Nach Berechnungen des Bundesinstituts für Bau-, Stadt- und Raumforschung müssten bis 2030 jährlich 230.000 neue Wohnungen entstehen.
Die Union will den Neubau von Mietwohnungen durch Sonderabschreibungen fördern und Familien, die sich eine Eigentumswohnung zulegen, Wohnkindergeld zahlen. Die SPD fordert ein sozial gestaffeltes Familienbaugeld und will die Mietpreisbremse nachschärfen. Letzteres fordern auch die Grünen. Sie wollen außerdem eine Million „preiswerte“ Wohnungen bauen.
Die Linke fordert mindestens 250.000 zusätzliche Sozialwohnungen pro Jahr und will deren Bau auch mit Bundesgeldern bezahlen. Die FDP will Neubau fördern, indem die jährliche Abschreibungsrate für Gebäude erhöht wird. Sie hält die Mietpreisbremse allerdings für überflüssig – ebenso wie die AfD.
Ökonomischer Analphabetismus
5. Abitur und keine Ahnung von Wirtschaft
Wie kommt man zu einer Krankenversicherung? Was sind Dispozinsen? Und vor allem: Wo liegt der Unterschied von Kalt- und Warmmiete? Hunderttausende junge Leute spuckt das deutsche Schulsystem jedes Jahr aus und ganz gleich, ob sie Abitur haben oder nur einen Realschulabschluss: Die allermeisten haben keine Ahnung davon, wie dieses Land funktioniert.
Sie wissen nichts von Steuern, Rentenversicherungen oder gar davon, wie man Kredite aufnimmt. „Ökonomischen Analphabetismus“ nennen das die Kritiker dieser Praxisferne deutscher Lehrpläne seit Jahren. Anfang 2015 schlug einer der Analphabeten mit Abitur Alarm: „ Ich bin fast 18 und habe keine Ahnung von Steuern, Mieten oder Versicherungen. Aber ich kann eine Gedichtanalyse schreiben – in 4 Sprachen“, schrieb ein Mädchen namens Naina auf Twitter und wurde zigtausendmal verbreitet.
Vor Jahren haben die Kultusminister ökonomische Bildung als „unverzichtbaren Bestandteil der Allgemeinbildung“ erklärt. Passiert ist praktisch nichts. Zwar gibt es in einigen Bundesländern Lehrbestandteile in verschiedenen Fächern, wie Politik oder Sozialwissenschaften. Betroffene jedoch berichten, dass die Lehrinhalte kaum Praxisbezug haben, da den meisten Lehrern das Interesse an derart profanem Stoff fehlt und die Kompetenz der Pädagogen in den ökonomischen Fächern stark schwanke.
Das einzige Bundesland, in dem es ein Pflichtfach „Wirtschaft“ gibt, ist Baden-Württemberg. Vor einigen Tagen wurde es eingeführt. Nordrhein-Westfalen debattiert über eine Einführung in drei Jahren, in einigen anderen Bundesländern gilt das Thema als fakultativer Bestandteil der Lehrpläne, in den meisten, wird es mal rasch nebenbei abgehandelt. Schlichtweg: Nichts.
Bildung steht zwar in allen Parteiprogrammen ganz oben auf der Liste der Wahlversprechen. Aber keine einzige Partei – auch nicht die FDP – thematisiert die mangelnde ökonomische Bildung deutscher Schulabgänger.
Ganztagsschulen
6. Die Kinder sind mittags zu Hause - zu wenig Ganztagsschulen
Schon um 13 Uhr steht das Grundschulkind wieder vor der Haustür. Mittagessen? Niemand da, der es zubereiten könnte. Auch niemand, der bei den Hausaufgaben helfen könnte. Also geht das Kind zum Nachbarn und verbringt den Nachmittag mit Computerspielen. Für viele Kinder in Deutschland beginnt so eine erfolglose Schullaufbahn, die schließlich in Schulabbruch und Arbeitslosigkeit mündet.
Wohl dem Kind, das auf eine Ganztagsschule gehen kann. Dort entwickeln Schüler laut Studien ein besseres Sozialverhalten und zeigen auch bessere Leistungen im Lesen. Doch obwohl seit vielen Jahren bekannt ist, dass zwei Drittel der Eltern ihr Kind gerne zu einer Ganztagsschule schicken würden, nehmen erst 40 Prozent der Schüler in Deutschland am Ganztagsbetrieb teil.
Eigentlich sind es noch weniger. Denn oft ziert das Etikett „Ganztagsschule“ eine Mogelpackung. Nur jeder fünfte Schüler besucht eine gebundene Ganztagsschule, also eine Schule, an der die Schüler an drei Tagen am Nachmittagsprogramm teilnehmen müssen – dabei sind gerade hier die Programme pädagogisch höherwertiger als bei freiwilliger Teilnahme. Zehn Prozent der Ganztagsschulen sind sogar an weniger als an drei Tagen nachmittags geöffnet.
Um den Ausbau der Ganztagsschulen deutlich zu beschleunigen, fordern die SPD und die Linke einen Rechtsanspruch auf einen Platz an einer Ganztagsschule und die Abschaffung des Kooperationsverbots. Auch die Union will neuerdings einen Rechtsanspruch „auf eine bedarfsgerechte Betreuung im Grundschulalter“ schaffen – da sie aber am Kooperationsverbot festhält, bliebe die Entscheidung bei den Ländern.
Die Grünen wollen ebenfalls, dass das Kooperationsverbot fällt, damit der Bund den Ausbau der Ganztagsschule vorantreiben kann, sowie einen Rechtsanspruch „mindestens“ auf eine Hortbetreuung. Die FDP und die AfD erwähnen die Ganztagsschule in ihren Wahlprogrammen nicht.
Einbrecher
7. Wenn die Wohnung nicht mehr sicher ist
Die Tür ist aufgebrochen, die Schubladen zerwühlt, der Schmuck fehlt: 151.000 Mal wurde in Deutschland im vergangenen Jahr eingebrochen. Das ist zwar ein Rückgang zum Vorjahr, doch auf lange Sicht hat sich die Situation verschlechtert. 2006 gab es nur rund 106.000 Einbrüche – seitdem also ein Anstieg um 30 Prozent.
Die Politik hat das Problem durchaus erkannt: Werde in die eigene Wohnung eingebrochen, könne das ernste psychische Folgen haben, sagte Justizminister Heiko Maas (SPD). Kurz vor dem Ende der Legislaturperiode wollte die große Koalition deshalb ein Zeichen setzen: mit einem Gesetz, das deutlich höhere Strafen für Wohnungseinbrüche vorsieht als bisher und die Nutzung der Vorratsdatenspeicherung zur Aufklärung erlaubt.
Doch vor allem die höheren Strafen dürften sich als relativ nutzlos erweisen. Zum einen zeigte eine qualitative Studie des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen, dass sich umherreisende oder aus dem Ausland stammende Täter überhaupt nicht für das Strafmaß interessieren. Und sie sind eine der größten Tätergruppen: Das Innenministerium führt den Anstieg bei den Einbruchsdelikten vor allem auf die Aktivitäten von Einbrecherbanden aus Osteuropa zurück.
Dazu kommt, dass die Aufklärungsquote bei Einbrüchen so niedrig ist wie bei wenigen anderen Delikten. Sie liegt bundesweit bei 16,9 Prozent. Am Ende werden laut einer weiteren Studie des Kriminologischen Instituts nicht einmal drei Prozent aller Einbrecher verurteilt.
Die CDU verspricht, die Zahl der Polizisten in Bund und Ländern noch einmal um 15.000 zu erhöhen. Eine Aufstockung in der selben Höhe sagt die SPD zu. Die Grünen setzen auf wirksame Maßnahmen zur Einbruchsprävention „statt auf symbolische Strafverschärfungen“. Die Linke plädiert dafür, durch eine umfassende Aufgabenkritik Polizei von sinnlosen Arbeiten zu befreien.
Die FDP fordert die kontrollierte Freigabe von Cannabis, damit die Polizei mehr Zeit hat, Einbrüche zu verfolgen. Und die AfD will verbesserte Fahndungsmethoden – um zum Beispiel bei unbekannten Tätern DNA-Spurenmaterial auf „biogeografische Merkmale der gesuchten Person untersuchen zu lassen“.
Fachkräftemangel
8. Keine Handwerker zu bekommen - der Fachkräftemangel
Die Preise für Dachdecker steigen von Jahr zu Jahr, wer Reinigungskräfte sucht oder sich vom Tischler Einbauschränke bauen lassen will, bekommt immer die gleiche Auskunft: Keine Leute, keine Leute. Wartezeiten sind mittlerweile die Regel, kaum ein Firmenauto ohne Aufschrift: „Wir suchen...“. Ob Verkäufer, Pflegepersonal, Mechatroniker: Überall suchen deutsche Unternehmen Mitarbeiter.
Und weil – gerade im Baubereich – die Nachfrage der Kunden wegen der niedrigen Zinsen anhaltend hoch ist, können die Firmen an der Preisschraube drehen. Fachkräftemangel ist das größte Thema in den Unternehmen. 1,1 Millionen Stellen sind im Augenblick unbesetzt. Je kleiner die Firmen, umso drängender das Problem.
Lange Zeit galt das Problem als alarmistische Drohung von Arbeitgeber- und Unternehmerverbänden. Mittlerweile wird es zum Hemmnis für Dienstleistungen: Die Menschen spüren es, wenn sie ihr Geld ausgeben wollen und statt auf offene Türen auf Vertröstungen stoßen. Und es wird zum Problem für die Volkswirtschaft insgesamt. Erst vor wenigen Tagen warnte der Deutsche Industrie- und Handelskammertag: Weil Fachkräfte in vier von fünf Unternehmen fehlen, unterlassen die Betriebe Innovationen.
Die Union setzt auf Qualifizierung und Integration von Flüchtlingen, um Lücken zu schließen. Ein Einwanderungsgesetz, das gezielt qualifizierte Fachkräfte im Ausland anwirbt, steht nicht auf der Tagesordnung. Auch die anderen Parteien setzen auf mehr Qualifizierung von Arbeitslosen. Um den Zuzug von qualifizierten Arbeitskräften zu steuern, wollen SPD, Grüne und FDP ein Einwanderungsgesetz – mit einem Punktesystem. Die Linke lehnt „selektive“ Elemente in der Einwanderungspolitik ab, die AfD will „ausschließlich qualifizierten Zuzug nach Bedarf zulassen“.
Vernachlässigte ländliche Räume
9. Abgehängte Provinz
Die Mietersparnis wird durch Kosten für Auto und Nahverkehr aufgefressen, der Bus zum Arzt fährt nur zwei mal am Tag, im Supermarkt ist die Auswahl überschaubar. Kultur gibt es im Fernsehen, Bücher per Post von Amazon, das Internet ruckelt, das Handy funktioniert nicht immer.
Die Landwirtschaft ist weitgehend industrialisiert, die Politik wird in den Städten gemacht – da sind die Parlamente und die Medien, da lassen sich viele Interessen bündeln, gesellschaftliche Probleme schnell erkennen und politisch behandeln. Zwischen 2000 und 2015 ist die Bevölkerungszahl im Kreis Oberspreewald-Lausitz in Brandenburg um 21,7 Prozent gesunken, in Potsdam um 20,5 Prozent gestiegen. Auch aus dem Harz, aus der Rhön oder dem Hunsrück, den ostdeutschen Bundesländern und aus dem Saarland schwinden mit zunehmender Landflucht alltägliche Nahversorgung und gesellschaftliche Teilhabe.
Es gehen die Aktiven, die eine Zukunft suchen, sich politisch einbringen wollen: zunächst wegen vielfältigerer Ausbildungs- und Arbeitsplätze junge Menschen – mehr Frauen als Männer. Inzwischen zieht es auch Ältere in die Städte mit vielseitiger Gesundheitsversorgung, großem Kulturangebot, differenzierten Sozialstrukturen, Einkaufsmöglichkeiten und Alltagsmobilität.
Die ländlichen Räume – größter Teil der deutschen Landkarte – muss man in den Parteiprogrammen schon mit Lupe oder Schlagwortsuche ausfindig machen. Alle versprechen, die ländliche Gesellschaft endlich digital ans schnelle Internet anzuschließen. Die SPD will „selbstorganisierte Infrastrukturprojekte wie Bürgerbusse, Dorfläden oder Kultur- und Sportzentren“ fördern und regionale Wirtschaftsstrukturen zur gemeinsamen Bund-Länder-Aufgabe machen. Die Grünen zählen dazu auch die soziale Daseinsvorsorge bis zu jahrgangsübergreifenden Kleinstschulen.
Die CDU will mehr Behörden und Forschungseinrichtungen in der Provinz ansiedeln und – wie Grüne und Linke – die Städtebauförderung auch für kleinere Gemeinden nutzen. Auch die Förderung von bäuerlichem Umwelt- und Naturschutz eint Union und Grüne. Linke und Grüne wollen die industriellen und handwerklichen Kompetenzen der regionale Wirtschaft sichern – und einen solidarisch finanzierten ÖPNV entwickeln; die Linke mit Mobilitätsgarantie im Stundentakt zum nächsten Oberzentrum.
Pflegenotstand
10. Wohin mit Oma - die Pflegemisere
Die Zahl der Pflegebedürftigen steigt, und immer weniger von ihnen haben Angehörige, die sich um sie kümmern können – weil sie kinderlos geblieben sind, die Familienmitglieder zu stark im Beruf eingespannt sind oder zu weit entfernt leben. Von den Profis in Heimen und ambulanten Diensten werden sie oft schlecht betreut, die Einrichtungen suchen händeringend nach Pflegekräften, die vorhandenen sind überfordert oder wegen mieser Arbeitsbedingungen frustriert.
Und weil der Pflege-Tüv kaum etwas über die wirklichen Zustände in den Heimen verrät, fehlt es Betroffenen auch an verlässlicher Information. 90 Prozent der Deutschen wünschen sich bessere Auskünfte, mehr als 60 Prozent ängstigt der Personalmangel, jeder Zweite rechnet damit, im Alter keine passende Hilfe zu finden. Doch die Politik kommt mit einem neuen Bewertungssystem frühestens 2019 zu Potte. Gleichzeitig steigen die Heimzuzahlungen, auch ambulant bleibt vieles unerschwinglich. Für die Pflege zuhause wissen sich viele nur noch mit osteuropäischen Billiganbietern zu helfen.
Gestritten wird vor allem um die Finanzierung. SPD, Grüne und Linke wollen eine Bürgerversicherung auch für die Pflege, Union und FDP sind dagegen. Ansonsten wünschen sich im Prinzip alle mehr Personal, bessere Arbeitsbedingungen für Pflegekräfte, mehr Hilfe für pflegende Angehörige. Auf verbindliche Personalschlüssel und bessere Bezahlung von Pflegeprofis pochen Grüne, SPD und Linke. Erstere fordern auch, dass der Pflege-Tüv „sehr grundlegend reformiert“ wird, und verlangen ein unabhängiges Qualitätsinstitut.
Die SPD verspricht denen, die ihren Job wegen der Pflege von Angehörigen länger als drei Monate reduzieren, 150 Euro im Monat. Die Linke will den Ausbau der bisherigen Teilkasko- zur Vollversicherung, einen Pflegemindestlohn von 14,50 Euro und für Heimbewohner eine gesetzliche „Mindeststundenanzahl an menschlichem Kontakt“. Die FDP setzt auf stärkeren Einsatz von IT-Lösungen und Assistenzsystemen. Und die CDU möchte Kinder von Pflegebedürftigen erst ab einem Einkommen von 100.000 Euro zur Kasse bitten.