Ukraine zwischen Angst und Hoffnung: ... und abends mit den Kindern Krieg üben
Es geht Putin nicht um eine Ausdehnung der Nato, er will verhindern, dass die Ukraine als Demokratie funktioniert. Das würde ihn bedrohen. Ein Gastbeitrag.
- Oleksandra Matwijtschuk ist Menschenrechtsaktivistin, Vorsitzende des Center for Civil Liberties und Verwaltungsratsmitglied der International Renaissance Foundation.
Im Jahr 2014 besetzten von Moskau unterstützte militärische Aktivisten das einzige Zentrum für zeitgenössische Kunst in der ukrainischen Stadt Donezk. Seither dient es als geheimes Gefangenenlager. Der ukrainische Journalist Stanislaw Asejew wurde zwei Jahre lang in der Haftanstalt gefoltert, und seine vor Kurzem auf Englisch erschienenen Erinnerungsberichte sind eine erschütternde Lektüre.
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In den Augen des Kreml sind Kriegsverbrechen keine Fehler, sondern Taktik; man gewinnt und behält die Kontrolle über eine Region, indem man lautstarke Minderheiten einsperrt und drangsaliert. Der passiven Mehrheit wird damit signalisiert, dass sie zu schweigen hat. Alle, die Alarm schlagen könnten – vielfach sind das Menschenrechtsaktivist:innen –, werden ins Exil gezwungen oder inhaftiert.
Versuchen Sie nur mal, in anderen vom Kreml beherrschten Gebieten wie Transnistrien, Südossetien oder der Krim Menschenrechtsorganisationen zu finden, die nicht unter systematischer Verfolgung leiden. Nach der Invasion der Ostukraine entsandte unsere Organisation Beobachter:innen in die Region. Beunruhigenderweise berichteten sie, dass es sich bei den „Befreiern“ des Donbass um Personen wie etwa den Kommandanten Igor Strelkov handelt, der für Massaker in Transnistrien und Tschetschenien berüchtigt ist.
Eine ganze Region ist seit 2014 abgeriegelt
Verständlicherweise richtet sich der Blick der Weltöffentlichkeit auf die russischen Streitkräfte an der ukrainischen Grenze. Doch seit 2014 ist eine ganze Region – sieben Prozent des Landes – durch einen eisernen Vorhang abgeriegelt und wird von bewaffneten Gruppierungen regiert, die von Wladimir Putins Regime finanziert werden. Ich habe mit Menschen gesprochen, die in den Kerkern der selbst ernannten „Volksrepubliken“ Donezk und Luhansk gefoltert, vergewaltigt, verstümmelt und zu gefälschten Geständnissen gezwungen wurden. Der UN-Menschenrechtsrat hat in den vergangenen Jahren Dutzende willkürlicher Verhaftungen in diesen rechtlichen Grauzonen dokumentiert.
Ljudmila Huseinowa, eine Rechtsanwältin, die verdächtigt wird, mit der Ukraine zu sympathisieren, befindet sich im bereits dritten Jahr in Haft, ohne ausreichendes Trinkwasser und Zugang zu medizinischer Versorgung. Natalia Statsenko, eine seit 2019 unter dem Vorwurf der Spionage inhaftierte Ärztin, leidet unter so starken Schmerzen in der Wirbelsäule, dass ihre Eltern besorgt sind, dass sie ohne Zugang zu medizinischer Versorgung bald sterben wird.
Das sind nur zwei Beispiele für die Hunderte von politischen Gefangenen in den von Stellvertretern Russlands kontrollierten Gebieten der Ukraine. Wer in solchen Grauzonen lebt, hat keine Möglichkeiten, sich zu schützen. Selbst dem Internationalen Komitee vom Roten Kreuz wurde der Zugang zu den Gefangenen in den Gefängnissen des Donbass verweigert.
In dieser gegenwärtigen angespannten Lage geht es nicht um Russland und die Ukraine, sondern darum, die Demokratie zu verteidigen und die weitere Expansion eines autoritären Systems zu verhindern. Die Ukraine steht zufälligerweise im Mittelpunkt dieses Kampfes, doch wird Putin jetzt nicht aufgehalten, wird sich schon bald ein anderes Ziel abzeichnen, dann womöglich im Herzen der EU.
Moskau kümmert sich nicht um das Wohlergehen der Menschen
Im Donbass sehen wir die traurige Bilanz russischer Aggression. Moskau kümmert sich nicht um das Wohlergehen der Menschen in diesen Gebieten, und das unabhängig von ihrer „Zugehörigkeit“. Es geht einzig darum, Spaltung zu säen, die Regierung in Kiew abzulenken und ihr Energie und Ressourcen zu entziehen, bis sie schließlich wieder gefügig wird.
In diesen Tagen ist Kiew ein surrealer Ort. Wir tun so, als würden wir ein normales Leben führen. Die Menschen schlendern durch die Straßen, gehen in Geschäfte, ins Kino, ins Fitnessstudio – und am Abend erklären sie ihren Kindern, wie sie sich im Falle eines Bombenangriffs zu verhalten haben. Unsere Bürgerrechtsinitiativen haben entscheidend bei der Verbreitung von Orientierungshilfen für den Fall einer Evakuierung oder einer Internetabschaltung mitgeholfen. Im Ernstfall würden diese Gruppen unmittelbar aktiv, um den schwächsten Menschen zu helfen.
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Was der Ukraine am ehesten helfen würde, wäre die Unterstützung der Bürgerrechtler, die Verhängung von Sanktionen gegen russische Oligarchen und die Verhinderung eines Rückbaus durchgeführter wichtiger Reformen. Diese Hilfen beim Aufbau stabiler und verlässlicher Institutionen in der Ukraine sind wertvoll, unabhängig davon, ob eine Invasion unmittelbar bevorsteht oder nicht.
Im Falle einer russischen Invasion sollten die USA und die EU unverzüglich umfassende Wirtschaftssanktionen verhängen, die auf Russlands Finanzsektor, Staatsschulden, Energiehandel und Güterverkehr abzielen. Wir sollten zugleich aber auch zur Kenntnis nehmen, dass die ukrainische Wirtschaft von der Krise und dem von Russland verursachten Spannungszustand bereits getroffen wurde. Die ukrainische Wirtschaft ist zur Stärkung ihrer Resilienz auf die Unterstützung der internationalen Gemeinschaft angewiesen, um den Rückgang internationaler Investitionen und die erhöhte Marktvolatilität durch makroökonomische Unterstützung auszugleichen.
Putin versteht nur Stärke
In der Folge der Maidan-Revolution 2014, bei der Präsident Viktor Janukowitsch gestürzt wurde, begann in der Ukraine ein Wandel zu einer regelgebundenen Demokratie. Dieser Prozess ist nicht immer reibungslos abgelaufen, und es liegt noch ein gutes Stück Weg vor uns, doch das Ziel ist klar. Putin ist in die Ukraine eingefallen, weil er diesen Umbruch vereiteln will. Ihn schert weniger eine Nato-Erweiterung als vielmehr die Vorstellung, von Menschen umgeben zu sein, die frei über ihre Zukunft entscheiden und die Machteliten zur Rechenschaft ziehen können. Dialog bleibt wichtig, auch wenn der Kreml ihn als Zeichen von Schwäche betrachtet. Letztlich versteht Putin nur Stärke; daher müssen die europäischen Partner der Ukraine ihre Bereitschaft zeigen, militärischen Drohungen entgegenzutreten und die Folgekosten einer Invasion zu erhöhen.
Eine Demokratisierung der Ukraine bedroht Putins Regime. Wohlstand und Transparenz in dem Land würden die Russen dazu verführen, Fragen zu stellen. Nach der unvermittelten Auflösung der angesehenen russischen Menschenrechtsorganisation Memorial im Dezember 2020 fragten wir dort nach, wie wir helfen könnten. „Seid erfolgreich“, war die Antwort. Die Schicksale Russlands und der Ukraine scheinen oft miteinander verflochten zu sein, aber die Welt kann nicht darauf warten, dass sich Russland in absehbarer Zeit demokratisiert. Die Ukraine ist bereits auf dem richtigen Weg, und wir müssen nur auf den Donbass schauen, um zu sehen, welche Folgen ein Scheitern haben kann.
Oleksandra Matwijtschuk