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Iris Gleicke
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Ost-Beauftragte Iris Gleicke im Interview: "... sonst fliegt uns die Ostförderung um die Ohren"

Iris Gleicke, die neue Ost-Beauftragte der Bundesregierung, spricht im Interview mit dem Tagesspiegel über angemessenes Erinnern, abenteuerliche Neiddiskussionen - und die Chancen für Rot-Rot-Grün in Thüringen.

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Frau Gleicke, ein schönes Büro haben Sie. Was tun Sie hier?
Ich habe eine wunderbare neue Aufgabe. Ich bin als Staatssekretärin beim Bundesminister für Wirtschaft und Energie auch die Beauftragte für die neuen Länder. Es ist gut, dass diese Position jetzt hier angesiedelt ist beim Vizekanzler und Bundeswirtschaftsminister. Vieles wird sich so besser verknüpfen lassen. Die Wirtschaftsförderung ist hier angesiedelt, vor allem die Mittelstandsförderung.

Vor einem halben Jahr wollten Sie das Amt des Ost-Beauftragten noch abschaffen.
Ich habe die Frage gestellt, ob es nicht einen Beauftragten für strukturschwache Regionen in ganz Deutschland geben sollte. Bei den anstehenden Verteilungskämpfen um den Länderfinanzausgleich und das Auslaufen des Solidarpakts wird es ohne einen Sachwalter ostdeutscher Interessen nicht gehen. Der muss dabei aber zugleich auch im Blick haben, wo es in den alten Ländern Probleme gibt.

Dann sind Sie also demnächst öfter in Duisburg?
Warum nicht. Ich werde mich jedenfalls dafür einsetzen, dass strukturschwache Regionen in Ost und West gleichermaßen eine solide Finanzierung erhalten.

Was entgegnen Sie Leuten, die sagen, den Leuten im Osten geht’s schon lange gut?
Viele Neiddiskussionen sind abenteuerlich. Wir haben  die strukturschwachen Regionen im Westen sehr wohl im Blick. Ich sage aber auch: Wenn wir uns ausschließlich auf die Ostförderung fokussieren, wird sie uns um die Ohren fliegen. Ich möchte ein festes Bündnis mit den strukturschwachen Regionen im Westen. Entweder sind wir gemeinsam bei den Verteilungskämpfen stark oder wir gehen getrennt unter.

Was wollen Sie anders machen als Ihr Vorgänger, der CDU-Mann Christoph Bergner?
Ich werde die Unterschiede zwischen Ost und West klarer als er benennen. Die Wirtschaftskraft in den neuen Ländern ist etwa 30 Prozent niedriger als im West-Durchschnitt. Bei den Einkommen hängt der Osten je nach Branche sogar bis zu 45 Prozent hinterher.

Die alte Bundesregierung hat also zu viel schöngeredet?
Mein Ansatz ist immer: viel erreicht, viel zu tun.

Sind Sie stolz, eine Ostdeutsche zu sein?
Ich bin auf vieles stolz. Auch darauf, eine Ostdeutsche zu sein.

Muss eine Ost-Beauftragte nicht mehr rausholen als im Koalitionsvertrag vereinbart ist, also etwa die Ost-West-Angleichung der Renten durchsetzen?
Im Koalitionsvertrag haben wir vereinbart, dass wir die Rentenangleichung bis 2019 hinbekommen möchten. Das ist ein wichtiger Erfolg.

In dieser Legislaturperiode wird’s also nichts.
Wir müssen das zeitlich strecken. Der flächendeckende gesetzliche Mindestlohn wird im Osten viel stärker zu Buche schlagen. In den neuen Ländern gibt es noch immer sehr viele Menschen, die weniger als 8,50 Euro pro Stunde verdienen. Nach Einführung des Mindestlohns werden also im Osten auch die Renten steigen. Das hat dann wieder Auswirkungen auf das Lohnniveau und auf die Ost-West-Angleichung der Einkommen. 2019 wird in Deutschland ein einheitliches Rentenrecht gelten.  

Darf es mit Blick auf die Lage in Ostdeutschland Ausnahmen beim Mindestlohn geben?
Nein. Der Mindestlohn soll im ganzen Bundesgebiet gelten, und zwar für alle, die einen regulären Arbeitsvertrag haben. Auch Menschen, die in Teilzeit arbeiten, dürfen nicht diskriminiert werden.

Und was ist mit Studenten? Und was, wenn Zuwanderer aus Osteuropa auf diesem Ticket die Mindestlohn-Bestimmungen unterlaufen?
Das Pflichtpraktikum im Rahmen eines Studiums fällt nicht unter den Mindestlohn, der Nebenjob eines Studenten aber sehr wohl. Und selbstverständlich bekommen alle Arbeitnehmer den Mindestlohn, egal wo sie geboren sind. Das ist ein Gebot der Gerechtigkeit. Und außerdem würden sonst die Löhne für alle anderen Arbeitnehmer gedrückt.

Was sagen die Mittelständler in ihrem Heimatland Thüringen zum Mindestlohn? Gibt’s da Existenzängste?
Mein Wahlkreis grenzt direkt an Bayern. Wir haben dort deshalb eine so niedrige Arbeitslosenrate, weil wir jeden Tag 40 000 Pendler auf der Straße haben. Wenn die Leute in Thüringen oder anderswo in Ostdeutschland nicht anständig bezahlt werden, wandern sie ab. Viele Unternehmen wissen längst, dass sie ihre Fachkräfte ziemlich schnell los sind, wenn sie sie nicht ordentlich bezahlen.

"Der Osten ist heute oft auch Avantgarde"

Iris Gleicke
Iris Gleicke auf der Regierungsbank im Bundestag
© dpa

In den Regionen entlang der ehemaligen innerdeutschen Grenze kommen junge Leute verstärkt zurück, mindestens zum Wohnen. In Ihren Wahlkreis, aber auch ins Vogtland, ins Eichsfeld oder den Westen Mecklenburgs. Doch wie wollen Sie die Probleme von anderen strukturschwachen Regionen wie Vorpommern, Uckermark und Lausitz lösen?
Schlüssel dafür bleiben die Wirtschafts- und die Innovationsförderung. Mit ihr können wir kleinen Unternehmen in ländlichen Regionen helfen, neue Produkte zu entwickeln.

Planen Sie neue Programme?
Wir haben hier im Haus jede Menge Förderprogramme. Ein erfolgreiches Beispiel, gerade auch im Osten, ist das Zentrale Innovationsprogramm Mittelstand. Als gelernte Ingenieurin sage ich: Wir müssen uns die Programme, die es gibt, anschauen und wenn nötig zielgenauer ausgestalten.

Müssen die strukturschwachen Regionen auf Teufel komm raus auf Vordermann gebracht werden? Sollten sie nicht lernen, mit ihrer Strukturschwäche zu leben?
Das ist eine hoch emotionale Frage. Früher gab’s bei uns in der DDR den wunderbaren Spruch: Der Letzte macht das Licht aus. Ich will aber keine abgehängten Regionen. Ländliche Räume haben andere Chancen. Um sie zu sichern, muss es eine angemessene Infrastruktur mit Schulen, Gesundheitsversorgung und öffentlichem Nahverkehr geben, ausdrücklich auch in Regionen mit dünner Besiedelung. Doch leider viel zu lange ist die Angleichung der Lebensverhältnisse vor allem an der Anzahl der Autobahnanschlüsse gemessen worden. Das führt uns in die Irre.

Was konkret ist zu tun?
Ein zehn Tonnen Stahl schwerer Bus, in dem bloß eine Nase sitzt, ist in dünn besiedelten Regionen kaum zu finanzieren, ein Ruftaxi aber sehr wohl. Ich erinnere mich auch gern an die Gemeindeschwester Agnes aus dem DEFA-Film. Nach ihr wurde ein erfolgreiches Modellprojekt benannt. So etwas gefällt mir. Es gibt bereits ziemlich viele intelligente Lösungen und gute Ansätze. Und wenn wir bald über 25 Jahre Mauerfall reden, dann möchte ich zeigen, dass der Osten heute oft auch Avantgarde ist.

Warum wurde vergangene Woche der Jahresbericht Deutsche Einheit nicht wie geplant im Bundestag diskutiert?
Fragen Sie das Parlament. Ich hatte mich vorbereitet.

In dem von Ihrem Amtsvorgänger verantworteten Jahresbericht wird die aktuelle Lage verglichen mit der von 1991. Damals war die Wirtschaft in Ostdeutschland weit abgestürzt. Wäre ein Vergleich mit 1989, dem letzten vollständigen Jahr der DDR-Wirtschaft, nicht weit aussagekräftiger?
Alle sehen, was in Ostdeutschland erreicht worden ist, auch ohne diesen Bericht mit aneinandergereihten Zahlen. Die Menschen haben aber auch ein feines Gefühl dafür, wo die Unterschiede fortbestehen: bei der der Einkommenssituation, der Rente, den Karrierechancen.

"Den Mauerfall habe ich auf dem Sofa verschlafen"

Jugendlicher im FDJ-Hemd
"Ein Verbot hieße auch, ein Stück Erinnerung an die DDR zu tilgen". Jugendlicher nach der Wende im FDJ-Hemd.
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Wie haben Sie den Mauerfall vor 25 Jahren erlebt?
Ich habe ihn auf meinem Sofa verschlafen. Die Pressekonferenz vom SED-Plenum mit Günter Schabowski lief im Hintergrund im Fernsehen, aber den historischen Satz zur Maueröffnung habe ich verpasst.

Waren Sie damals politisch aktiv?
Ich war damals in der evangelischen Kirche und im Neuen Forum. Es war eine aufregende Zeit, aber sie war auch geprägt von Angst: Kommt es bei den Montagsdemonstrationen zu gewaltsamen Auseinandersetzungen, fallen Schüsse? Ich erinnere mich an die bedrohliche Szenerie bei der ersten Montagsdemonstration in meiner thüringischen Heimatstadt Schleusingen, als hinter der Kirchenmauer die Hundertschaften von Sicherheitskräften standen.

Was war damals die Motivation für Ihr Engagement?
Ich bin Bauingenieurin, ich sah die Innenstädte verfallen, in Eisenach und anderen Städten. Ich wollte in die Kommunalpolitik, um das zu ändern, und bin dann auch nach der Kommunalwahl vom 6. Mai 1990 Stadträtin geworden. Überall war Aufbruch, es war eine wilde Zeit.

Und wann haben Sie das erste Mal „rübergemacht“?
Ende November 1989 bin ich zu meiner Patentante nach Karlsruhe gefahren. Mein Vater hat uns mit seinem Wartburg zum Grenzübergang gefahren, wo wir in einer kilometerlangen Schlange standen. In Karlsruhe war schon alles weihnachtlich geschmückt. Ich erinnere mich an ein Schaufenster, in dem die gleiche Weihnachtspyramide stand, die ich zwei Jahre zuvor als Weihnachtsgeschenk in den Westen geschickt hatte. Die war dort deutlich billiger zu haben als damals für mich zum Endverbraucherpreis in der DDR.

25 Jahre nach dem Mauerfall wird wieder das angemessene Erinnern diskutiert. Die einen heben das Repressionssystem hervor, die anderen wollen das normale Leben in der DDR gewürdigt wissen. Was ist Ihnen wichtig?
Wir haben als DDR-Bürger versucht, ein anständiges Leben zu führen – unter den Bedingungen, die wir hatten. Wenn ich ins Schwimmbad gegangen bin oder mich mit Freunden getroffen habe, dann habe ich doch nicht zuerst über Diktatur nachgedacht. Aber alle hatten auch immer im Hinterkopf: Wo könnte jemand zuhören, dem man vielleicht den politischen Witz besser nicht erzählen sollte? Deshalb ist es richtig, an die Repression zu erinnern. Aber junge Leute, wie mein Sohn, haben heutzutage damit nichts mehr zu tun. Und sie wollen sich nicht aus verstaubten Akten informieren. Wir müssen den Zusammenhang erläutern: Repressionsgeschichte und Alltagsgeschichte gehören zusammen.

Gibt es bisher eine Schieflage in der Aufarbeitung, weil die, die an Repression erinnern, die stärkere Lobby haben?
Manchmal steht das wohl tatsächlich zu sehr im Vordergrund. Natürlich muss denjenigen Gehör verschafft werden, die tatsächlich Repressalien ausgesetzt waren und im Leben benachteiligt worden sind. Das sind wir ihnen schuldig, dieser Teil der Geschichte muss aufgearbeitet werden. Aber es ist eben auch nur ein Teil. Wenn wir im Herbst den 25. Jahrestag des Mauerfalls und im nächsten Jahr den 25. Jahrestag der Wiedervereinigung begehen, müssen wir an die dunklen und grauen Seiten der DDR erinnern. Aber wir sollten genauso hervorheben, was wir damals schön fanden und was wir seither erreicht haben.

Sind Sie für ein Verbot von DDR-Symbolen?
Es schreckt mich nicht, irgendwo ein DDR-Wappen zu sehen. Wir dürfen die DDR nicht mit Nazideutschland gleichsetzen. Wichtig ist zu wissen, warum es manchen gruselt, wenn er ein DDR-Wappen sieht. Aber ein Verbot hieße auch, ein Stück Erinnerung an die DDR zu tilgen. Ich bin in der DDR geboren und aufgewachsen, habe dort meine Ausbildung absolviert. Soll ich jetzt meine Ingenieursurkunde wegschmeißen, weil Hammer, Zirkel und Ährenkranz drauf sind?

Im Herbst wird ein neuer Landtag in Thüringen gewählt. Ist die Zeit reif für eine rot-rot-grüne Regierung?
Das entscheiden die Landesverbände. Ich bin ja auch stellvertretende SPD-Landesvorsitzende in Thüringen, und ich habe nie zu denen gehört, die gesagt haben: Spielt nicht mit den Schmuddelkindern. Die SPD braucht eine Alternative, sonst bleibt sie in der babylonischen Gefangenschaft der CDU. Die Linke muss ihr Verhältnis zu uns klären, aber wir auch das zur Linken.

Können Sie sich vorstellen, dass Thüringen im Herbst einen Ministerpräsidenten der Linken bekommt?
Wir kämpfen in erster Linie um die eigene Stärke. Aber es war gut, dass der SPD-Landesvorsitzende Christoph Matschie gesagt hat, wir stellen keinerlei Vorbedingungen.

Die Frage Rot-Rot stellte die SPD in Thüringen vor vergangenen Wahlen regelmäßig vor Zerreißproben. Was hat sich seither geändert?
Die nicht gerade berauschenden Wahlergebnisse haben dazu geführt, dass die Bündnisfrage bei uns ganz anders diskutiert wird.

Gilt das auch für den Bund?
Uns stehen vier Jahre große Koalition bevor. Und dann reden wir. Wir nutzen die Zeit.  

Iris Gleicke (49) aus Schleusingen bei Suhl ist seit 1990 Bundestagsabgeordnete der SPD. Seit Jahresanfang ist sie Beauftragte der Bundesregierung für die Belange der neuen Bundesländer - und in diesem Amt angesiedelt im Wirtschaftsministerium von Vizekanzler Sigmar Gabriel. Das Gespräch führten Matthias Meisner und Matthias Schlegel.

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