Kolumne "Ich habe verstanden": Wenn man keine Ahnung hat - Klappe halten
Thilo Sarrazins neues Euro-Buch, die Lage des Profi-Fußballs, Rassismus-Vorwürfe gegen Sarah Kuttner - diese Woche war voller Themen für einen Kolumnisten. Matthias Kalle erklärt, warum er nicht darüber schreibt.
Es gab in dieser Woche ein paar Themen, über die ein Kolumnist eigentlich schreiben müsste, weil sie sich – wie wir Vollprofis das nennen – geradezu anbieten für einen Text, der leicht daherkommen soll und anhand einer Sache den Zustand der Gesellschaft beschreiben will. Aber über alle Themen, die sich in dieser Woche anbieten, kann ich nicht schreiben, und warum ich darüber nicht schreiben kann, darum geht es in dieser Kolumne.
Am Sonntagabend sollte ich mir für den „Tagesspiegel“ die Sendung „Günther Jauch“ anschauen, zu Gast waren Thilo Sarrazin und Peer Steinbrück (beide SPD), es ging natürlich um das neue Buch von Thilo Sarrazin „Europa bracht den Euro nicht“. Ich sollte eine kurze Fernsehkritik für die Medienseite schreiben, das bedeutet: Ich schaue mir eine Stunde die Sendung an, mache mir dabei Notizen, dann setze ich mich an den Computer und schreibe über die Sendung, den Moderator, die Gäste, den Unterhaltungswert, den Erkenntnisgewinn, den Spannungsbogen. Weil ich schon die eine oder andere Fernsehkritik in meinem Leben geschrieben habe, war mir vor dieser Aufgabe weder Angst noch Bange, aber dann bekam ich einen Anruf, ob ich nicht einen Text für die „Dritte Seite“ zum Thema „Sarrazin“ schreiben könne, der Fernsehauftritt diene dann nur noch zur Aktualisierung. Ich habe gesagt, dass ich das nicht könne. Ich habe das Buch von Thilo Sarrazin nicht gelesen.
Obwohl ich für den Euro bin (so wie ich auch für Europa bin), ist mein Wissen darüber zu dünn, als das ich außerhalb einer Fernsehkritik darüber schreiben könne. Der Redakteur, dem ich das sagte, verstand mich. Ein anderer Kollege schrieb dann diesen Text. Der Text ist gut geworden.
Fußball ist so ein Thema, natürlich, nach allem, was jetzt war und vor allem, was noch kommt. Das dachte sich auch die Redaktion von „Sandra Maischberger“ und lud in die Sendung vom Dienstagabend so genannte Fußballexperten ein: Udo Lattek war da, Mario Basler, Rolf Töpperwien, Werner Schneider. Und als die so über Fußball redetet, über Spieler, über Fans, über die Zustände in den Stadien, da wusste ich nicht, ob ich mich sehr jung oder sehr alt fühle sollte, aber ich wusste, dass es manchmal auch völlig in Ordnung ist, wenn man absolut keine Meinung hat zu Arjen Robben, Bastian Schweinsteiger, Bengalos und dem Jahresgehalt von Lionel Messi.
Allerdings habe ich eine Meinung zu Sarah Kuttner – meine Meinung beschränkt sich allerdings auf ihr Talent als Autorin und auf ihr Talent als Moderatorin, deshalb habe ich überhaupt keine Meinung zu dem, was sich angeblich bei ihrer Hamburger Lesung vor einigen Tagen abgespielt hat. Ich war nämlich nicht dabei, ich weiß nur: Am vergangenen Freitag hatte Kuttner aus ihrem Buch „Wachstumsschmerzen“ gelesen, auch die Stelle, in der sich die Protagonistin Luise einen Überblick über ihr Hab und Gut verschafft: „Nichts zu sagen ist allerdings gegen meine Negerpuppe. Ein riesiges Stoffungetüm, ganze achtzig Zentimeter purer, unschuldiger Rassismus mit einem obszön großen Kopf, der so schwer ist, dass er der Puppe immer wieder auf die schmalen Schultern fällt und ihr so permanent einen ergreifend niedergeschlagenen Eindruck verleiht. Als wäre das nicht schon entsetzlich genug, wird das Ganze noch von einem furchterregenden Paar praller, aufgenähter Wurstlippen getoppt. Vollkommen undenkbar, dass so etwas heute noch verkauft würde (...).“ Danach habe Kuttner diese Stelle noch kommentiert, sie sei autobiografisch geprägt. In der „Hamburger Morgenpost“ vom Montag sagt ein Besucher der Lesung, der äthiopische Wurzeln hat: „Sie zog über diese 'Negerpuppe' her, ließ sich über deren 30 Zentimeter große 'Schlauchbootlippen' aus und wiederholte, wie ekelhaft sie diese Lippen fand. Sie habe die Puppe wegschmeißen müssen, weil es kein Sinn gehabt habe, sie zu behalten.“ Jedenfalls zeigte der Besucher Kuttner an, die „Morgenpost“ berichtete, der „Berliner Kurier“, „Bild“ und die „Welt“ schreibt: „'Minderbemittelte' Kuttner faselt über Negerpuppe.“
Das sind alles keine Themen für mich. Es sind Themen, von denen ich entweder keine Ahnung habe oder die einen künstlichen Erregungszustand erreicht haben, zu dem ich immerhin eine Meinung habe. Aber auch ein Kolumnist sollte mal seine Meinung für sich behalten. Auch ein Kolumnist darf noch hoffen, dass einige wieder lernen, sich nur zu Dingen zu äußern, über die sie ein bisschen Bescheid wissen – sei es, weil sie dabei waren, oder sei es, weil sie sich auskennen. Vor kurzem las ich irgendwo den Satz: „Endlich sagt einer mal was, was alle schon gesagt haben.“ Nächste Woche schreibe ich endlich über meine Kleiderbügelphobie.