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In Newtown lief ein 20-Jähriger Amok und tötete 27 Menschen. Es gibt viele solcher Amokläufe. Immer sind die Täter junge Männer.
© Reuters

Tickende Zeitbomben: Warum junge Männer Amok laufen

Immer wieder sind die Tatorte Schulen, immer sind die Täter männlich: Walter Hollstein beschreibt, warum junge Männer Amok laufen und macht ein gesellschaftliches Problem mit dem "überforderten Geschlecht" aus.

Erfurt, Nickle Mines, Emsdetten, Tuusula und Kauhajoki. Winnenden oder Newtown – das sind Stätten der in ihrer Schrecklichkeit eindrücklichsten Amokläufe der vergangenen zehn Jahre. Auffällig ist zweierlei: die Tatorte sind allesamt Schulen, die Täter allesamt junge Männer. Um Geschehenes zu verstehen, sollten diese beiden Konstanten von Amokläufen zusammenhängend betrachtet werden. Schule ist für viele Jungen in den letzten Jahren zu einem Horrortrip geworden. Sie fühlen sich dort unwohl, nicht ernst genommen, schlecht behandelt und schlechter benotet als Mädchen. Der Hamburger Lehrer Frank Beuster spricht von „Jungenkatastrophe“ und dem „überforderten Geschlecht“, die amerikanische Philosophin Christina Hoff Sommers, die sich selbst als kritische Feministin bezeichnet, vom Schul-„Krieg gegen die Jungen“.

Klar: Es gibt nach wie vor gescheite, hochbegabte und fleißige Jungen, die ihren Weg gehen. Aber eben: Die Zahl der Problemjungen hat in den vergangenen Jahren stark zugenommen. Legastheniker, Kinder mit dem ADHS-Syndrom, Schulversager oder Frühkriminelle sind fast ausschließlich Jungen. Der 18-jährige Amokläufer von Emsdetten bringt es in seinem Abschiedsbrief lakonisch auf den Begriff: „Das Einzigste, was ich intensiv in der Schule beigebracht bekommen habe, war, dass ich ein Verlierer bin.“ Da liegt dann Rache als „Ausweg“ nahe.

Die Schule ist für viele Jungen inzwischen zu einem Ort geworden, an dem ihre Bedürfnisse nicht mehr wahrgenommen werden. Eine Berliner Mutter schilderte unlängst in einer Sonntagszeitung die Schulerfahrungen ihres sechsjährigen Sohnes: Die Jungen mussten im Fach Deutsch Bienengeschichten lesen, im Kunstunterricht Schmetterlinge malen und beim Sport Schleiertänze aufführen. Da die Jungen dann ihren Unmut im Unterricht kundtaten, seien sie ständig vor der Tür oder im Sozialraum gelandet respektive mit Schulverweisen nach Hause gekommen. Jungen wachsen heute in einem engen Frauenkäfig von Müttern, Omas, Tanten, Erzieherinnen, Kindergärtnerinnen, Lehrerinnen, Sozialarbeiterinnen und Psychologinnen auf.

Sie werden mit weiblichen Werten, Erziehungszielen, Verhaltensmustern, Erwartungen und Anpassungsforderungen zugeschüttet; aber sie sind angehende Männer, möchten und müssen wissen, was denn nun eigentlich ein Mann konkret ist, was Männlichkeit bedeutet und wie sie gelebt werden kann.

Ein Mann soll Frauenversteher, Macho, Papa und Karrieretyp sein - am besten alles gleichzeitig

In Newtown lief ein 20-Jähriger Amok und tötete 27 Menschen. Es gibt viele solcher Amokläufe. Immer sind die Täter junge Männer.
In Newtown lief ein 20-Jähriger Amok und tötete 27 Menschen. Es gibt viele solcher Amokläufe. Immer sind die Täter junge Männer.
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Statt solches konstruktiv zu erfahren, stoßen sie ständig an weibliche Verhaltensmuster und Grenzsetzungen. In ihrer Motorik drücken sie dann häufig ihren Widerstand gegen die Erziehungseinrichtungen als weibliche Bastionen aus. Christina Hoff Sommers hat das sarkastisch kommentiert, indem sie darauf hinwies, dass Tom Sawyer und Huckleberry Finn heute in der Frauen-Schule sicher Ritalin verordnet bekämen, damit sie ruhiggestellt werden. „Unsere Söhne haben Probleme“, schreibt William Pollack, „und diese Probleme sind gravierender, als wir denken“: Selbst die Jungen, die nach außen ganz „normal“ wirkten und den Anschein erweckten, mit dem Leben gut zurechtzukommen, seien davon betroffen. Das läge an der Vielzahl widersprüchlicher Erwartungen, denen Jungen heute vonseiten der Gesellschaft auf höchst verwirrende Weise ausgesetzt sind. Sie können sich nicht mehr an allgemeingültigen Bildern von Männlichkeit orientieren, wie das früher der Fall war. Stattdessen müssen sie sich allein zurechtfinden – nicht zuletzt, weil das die männliche Rolle von ihnen verlangt.

Die Folgen bezeichnet eine große empirische Studie des Heidelberger Sinus-Instituts über „20-jährige Frauen und Männer“: Die jungen Männer „sehen sich unter hohem Performance-Druck. Sie können und sollen heute auf alle Ansprüche flexibel reagieren: Sie sollen Frauenversteher, durchtrainierte Machos, Kinderwagen schiebender Papa und Karrieretyp sein. Das Dilemma ist: Egal, für welche Rolle sie sich entscheiden: der Erfolg ist ihnen nicht garantiert“. Insofern hätten sie immer mehr Angst vor der Zukunft und befürchteten sogar, demnächst überflüssig werden zu können. Zu solchen Ängsten trägt der Zeitgeist fleißig bei. Was einmal in der öffentlichen Darstellung – sicher idealisiert – die „Krone der Schöpfung“ gewesen ist, erscheint nun – sicher übertrieben – als Latrine der Gegenwart: unnütz, böse, aggressiv und degoutant.

Die amerikanische Feministin Andrea Dworkin hat es bündig auf den Begriff gebracht: „Terror strahlt aus vom Mann, Terror erleuchtet sein Wesen, Terror ist sein Lebenszweck.“ Jungen fühlen sich zunehmend als Opfer dieses gewandelten Zeitgeistes. Das macht einen gehörigen Teil ihrer Identitätskrise aus. Ein zureichendes Männerbild, an dem man sich orientieren und ausrichten kann, bietet Sicherheit und damit auch Zukunft. Ein in sich brüchiges oder gar zerbrochenes Männerbild – auch noch willentlich herbeigeführt – ist gleichbedeutend mit Zukunftslosigkeit und provoziert dann erst jene männlichen Exzesse, die man angeblich abschaffen will. Identität kann von ihren männlichen Trägern nur aufrechterhalten werden in der Gewissheit, dass es für sie auch eine sinnvolle Zukunft gibt. Dazu braucht es aber Wegweiser und Entwürfe, bei denen Jungen und Männer sich auch wiederfinden können. Das hat die deutsche Familien- und Geschlechterpolitik bisher ignoriert.

Der umfassenden Mädchenförderung steht nicht einmal eine rudimentäre Jungenförderung gegenüber. Sicher macht das alles noch keinen Jungen zum Amokläufer. Hinzu kommen spezifische Persönlichkeitsmerkmale und spezielle Bedingungen, zum Beispiel die Waffenliebe der Eltern wie in Winnenden oder Newtown. Aber das grundsätzliche Problem wird nicht mit anderen Waffengesetzen und besseren Eingangskontrollen an Schulen zu lösen sein. Es braucht schon auch Antworten auf die Frage, wie es unseren Söhnen eigentlich geht und wie es ihnen besser gehen könnte.

Der Autor war von 1972 bis 2006 Professor für politische Soziologie an der Evangelischen Hochschule Berlin und Gutachter des Europarats für Männerfragen. Von ihm ist gerade das Buch erschienen: „Was vom Manne übrig blieb. Das missachtete Geschlecht“ (Opus magnum, 2012).

Walter Hollstein

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