SPD und Linke in Thüringen: Vorwärts und stets vergessen
Dunkelrot-Rot-Grün in Thüringen: War da nicht mal was? Früher meinte die Linke, es sei wichtig, die Erinnerung an die Vergangenheit wach zu halten. Wie willkürlich das war, zeigt sich dieser Tage. Ein Kommentar.
Muss man vergeben und vergessen? Haben Menschen nicht ein Recht darauf, sich ändern, wandeln, bessern zu dürfen? Als Hans Filbinger 1978 als Ministerpräsident von Baden-Württemberg zurücktreten musste, weil er als NS-Marinerichter an Todesurteilen beteiligt gewesen war, konnte ihm keiner mehr vorwerfen, ein Nazi zu sein. Filbinger hatte sich demokratisch geläutert. Als Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger im November 1968 auf dem CDU-Parteitag in Berlin von Beate Klarsfeld geohrfeigt wurde, stand auch er außerhalb jeden Verdachts, noch auf irgendeine Weise ideologisch mit der Nationalsozialismus verbandelt zu sein. Nein, Rücktritt und Ohrfeige standen für etwas anderes. Sie waren Ausdruck eines tief sitzenden Unbehagens über personelle Kontinuitäten.
Damals waren es vor allem linke Kräfte, die es als ihre Aufgabe betrachteten, die Erinnerung an die Vergangenheit wach zu halten, während auf konservativer Seite die Schwamm-drüber-Tendenz vorherrschte. Legendär ist das Zitat von Franz Josef Strauß: „Ein Volk, das diese wirtschaftlichen Leistungen vollbracht hat, hat ein Recht darauf, von Auschwitz nichts mehr hören zu wollen.“ Dieser Haltung stellte die Linke den Satz des amerikanischen Philosophen George Santayana gegenüber: „Wer sich der Geschichte nicht erinnert, ist dazu verdammt, sie zu wiederholen.“ Man verstand dies als Akt historischer Hygiene. Geschichte und Moral verwoben sich zu einer Neudefinition des politischen Anstands.
Von Bodo Ramelow, dem Gewerkschafter und gläubigen Christen aus dem Westen, geht keine Gefahr für die Demokratie aus
Wie willkürlich das war, lässt sich dieser Tage in Thüringen beobachten. Denn dort haben sich die Vorzeichen umgedreht. Plötzlich ist es die Linke, hervorgegangen aus SED und PDS, die darauf pocht, sich gewandelt zu haben, geläutert zu sein, von Mauer und Stacheldraht nichts mehr wissen zu wollen – und deshalb die Macht im Lande übernehmen zu dürfen. Von Bodo Ramelow, dem Gewerkschafter und gläubigen Christen aus dem Westen, geht in der Tat keine Gefahr für die Demokratie aus. In Berlin, Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt war seine Partei bereits in Regierungsverantwortung, ohne den gesellschaftlichen Frieden gestört zu haben. In Thüringen dürfte das kaum anders sein. Wenn da bloß nicht die Sache mit dem Anstand wäre!
Die „Distel“ dichtete einst: „Was uns nicht passt, das vergessen wir auch, und was wir vergessen, das war nicht, denn das ist in Deutschland ein alter Brauch – und Bräuche vergessen wir gar nicht.“
„Schild und Schwert der Partei“ waren verantwortlich für die Guillaume-Affäre
Muss man die SPD daran erinnern, wie sie im April 1946 mit der KPD zur SED zwangsvereinigt wurde (was in offizieller DDR-Geschichtsschreibung stets als „freiwilliger Zusammenschluss“ galt wie die Mauer als „antifaschistischer Schutzwall“)? Dass Sozialdemokraten, die sich dem Zusammenschluss verweigerten, verfolgt wurden? Dass Sozialdemokraten nach 1945 von Kommunisten in Speziallagern auf dem Gelände des früheren KZ Sachsenhausen inhaftiert, gefoltert und ermordet wurden? Muss man sie daran erinnern, dass „Schild und Schwert der Partei“ verantwortlich waren für die Guillaume-Affäre, die 1974 zum Sturz Willy Brandts führte? Dass es die SED war, die ihnen mit Ibrahim Böhme einen Stasi-Maulwurf in die Neugründungsphase nach dem Mauerfall platzierte, der dann im Februar 1990 gar zum Vorsitzenden der Ost-SPD gewählt wurde?
Und nicht zuletzt: War es nicht der damalige stellvertretende SPD-Parteichef Oskar Lafontaine, jene „Mischung aus Napoleon und Mussolini“ (Willy Brandt), der durch seinen miesepetrigen Wahlkampf 1990 die Grundlage für die anhaltende Schwäche der SPD im Osten der Republik gelegt hat? Damals schrieb Theo Sommer („Der falsche Mann zur falschen Zeit“) in der „Zeit“ über ihn: „Hochgemut und hochmütig, teils Spielernatur, teils Machtmensch, zuweilen ideologisch bis zur Verbohrtheit, zuweilen pragmatisch bis zum Opportunismus – so macht er in rastloser Hektik Politik.“
Die Vergangenheit wird auf diese Weise entsorgt
Vorwärts und stets vergessen: Dass nun die thüringische SPD in einem Akt der Unterwerfung der Linken zur Macht verhelfen will – einer Partei, die immer noch stolz darauf ist, auch ehemaligen Stasi-Zuträgern eine politische Heimat zu bieten –, offenbart eine erschreckende Beliebigkeit im Umgang mit der Vergangenheit. Die wird auf diese Weise entsorgt.
In leichter Abwandlung des Strauß-Zitats könnte das Motto der Linken heute lauten: „Eine Partei, die sich so oft umbenannt hat, hat ein Recht darauf, von Hohenschönhausen nichts mehr hören zu wollen.“ Und die Genossen nicken dazu beflissen.