Debatte über Armutsmigration: Vom Reflex zur Reflexion
Wer betrügt, der fliegt: Das Motto sollte vor allem für jene gelten, die eine Gespensterdebatte über den massenhaften Missbrauch von Sozialleistungen führen. Der Streit ist ohnehin eine Farce.
Worum geht’s? Noch bevor diese Frage gestellt werden konnte, funktionierten beim Thema Einwanderung auch im neuen Jahr die alten Reflexe wie auf Knopfdruck. Von rechts die Warnung vor einem massenhaften Missbrauch der Sozialsysteme (unbegründet), von links die Warnung vor Xenophobie (unbegründet), von Wirtschaftsseite der Hinweis auf fehlende Fachkräfte (begründet), von kirchlicher Seite die Betonung der Menschlichkeit (nie verkehrt), von Migrationsexperten das notwendige Zahlenmaterial (zehn Prozent der in Deutschland lebenden Bulgaren und Rumänen beziehen Sozialleistungen), von den betroffenen Städten und Kommunen die Forderung nach praktischer Hilfe (sprich: mehr Geld). Alles also wie gehabt.
Nein, nicht ganz. Folgende Meldung lässt hoffen, dass die Debatten-Gespenster den Geist selbst in Bayern nicht ganz haben austreiben können: Der Integrationsbeauftragte der Bayerischen Staatsregierung, Martin Neumeyer (CSU), rief seine Parteifreunde zur Mäßigung auf. Es gebe keine Daten über die zu erwartende Zuwanderung aus Rumänien und Bulgarien, sagte er. Die Parole „Wer betrügt, fliegt“ sei nicht hilfreich, einige seiner Parteifreunde würden sich künstlich entrüsten. „Wir müssen ehrlich sagen, dass wir bei der EU-Erweiterung auch dabei waren als CSU.“
Probleme auf Kommunalebene
Ganz genau. Seit dem 1. Januar ist der EU-Arbeitsmarkt auch für Bulgaren und Rumänen vollständig geöffnet. Das weiß man seit vielen Jahren, und gegen den Beschluss hat keine der im Bundestag vertretenen Parteien jemals protestiert. Im Koalitionsvertrag – unterzeichnet von CDU, CSU und SPD – heißt es klar und deutlich: „Wir wollen die Akzeptanz für die Freizügigkeit in der EU erhalten.“ (Bitte einmal täglich in die Mikrofone sagen, Horst Seehofer!) Und als Nächstes: „Wir werden deshalb der ungerechtfertigten Inanspruchnahme von Sozialleistungen durch EU-Bürger entgegenwirken.“ (Bitte ebenfalls täglich wiederholen, Frank-Walter Steinmeier!)
Was aber ist mit den Kommunen? Dortmund, Duisburg, Berlin: Da türmen sich die Probleme, angefangen bei der Unterbringung, der Sprachförderung, dem Schulbesuch der Kinder, bis hin zur Berufsvorbereitung und der Bekämpfung von Schwarzarbeit und Kriminalität. Da besteht erheblicher Handlungsbedarf. Doch der wurde ebenfalls bereits ins Visier genommen. Im Koalitionsvertrag steht: „Die Armutswanderung führt in einzelnen großstädtisch geprägten Kommunen zu erheblichen sozialen Problemlagen... Wir erkennen die Belastung der Kommunen bei der Bewältigung ihrer Aufgaben an.“
Es geht nur um die Details
Fassen wir zusammen: Koalitionskonsens besteht in der Akzeptanz der Freizügigkeit in der EU, ob für Spanier, Bulgaren, Italiener oder Rumänen. Missbrauch durch ungerechtfertigte Sozialleistungen wird entgegengewirkt, Schwarzarbeit bekämpft, den Kommunen geholfen. Und worum geht dann der Streit? Das will Angela Merkel auch wissen. Deshalb hat sie jetzt einen Arbeitskreis gegründet, der sich um die Details kümmert. Denn nur um die geht’s wirklich.
Malte Lehming