Flüchtlingskrise in Europa: Sanfter Druck statt Chaostage
EU-Ratspräsident Donald Tusk hat recht: Flüchtlinge müssen in Europa verteilt werden. Ein Kommentar
Die deutsche Willkommenskultur wird von zwei Seiten infrage gestellt: von denen, die behaupten, dass dieses Land gar keine Flüchtlinge mehr aufnehmen kann. Und von denen, die so tun, als ob es alle aufnehmen könne, unabhängig von der Zahl. Das eine hieße, die Menschlichkeit aufzugeben, das andere, die bereits spürbare Überforderung ins Unkontrollierbare zu steigern. Die beiden Lager werfen sich gegenseitig vor: Was ihr wollt, geht gar nicht!
EU-Ratspräsident Donald Tusk hat den Deutschen in seiner Europa-Rede erst Komplimente für ihre Humanität und dann Mut gemacht, dass sie steuernd Einfluss nehmen können, dass sie das dürfen – und dass ihre EU-Partner das sogar erwarten. Menschlichkeit und Begrenzung gehen zusammen.
"Die Doktrin der Offenheit revidieren"
Wie er das meint, hat er im Interview mit dieser Zeitung präzisiert. Er lobt das „Wir schaffen das“ bei der Aufnahme, erwartet aber dieselbe Philosophie bei der Aufgabe, die Zahl der Migranten in beherrschbaren Dimensionen zu halten. „Wir müssen die Doktrin der völligen Offenheit revidieren.“
Die heutige Lage empfindet er als eine schleichende Auflösung staatlicher Ordnung und als Flucht aus der Verantwortung, die Dynamik zu steuern. Die EU-Staaten haben die Kontrolle über ihre Außengrenzen verloren. Sie wissen nicht, wie viele unkontrolliert einreisen, was für Menschen das sind, ob Gefahr von ihnen ausgeht. Schon das ist ein unhaltbarer Zustand. Die EU müsse die Kontrolle über die Außengrenzen aber auch zurückgewinnen, weil sie sich sonst erpressbar macht, etwa durch die Türkei. Und weil ohne diese Kontrolle die Verteilung im Innern nicht funktioniert. Zur Grenzsicherung gehören auch Zäune und Grenzschützer, die erzwingen, dass jeder die Grenzübergänge benutzt.
Tusk will die Verantwortung nicht nach Brüssel abgeben, ist nicht für den Aufbau neuer Superbehörden, etwa eines EU-Grenzschutzes. Das würde zu lange dauern. Die Nationalstaaten haben eigene Grenzschützer und auch Behörden für die Aufnahme von Migranten. Sie müssen ihre Möglichkeiten, Ordnung ins Chaos zu bringen, nur endlich nutzen. Reicht das eigene Personal nicht aus, können sie EU-Partner um Hilfe bitten.
Deutschland muss das Signal zum Kurswechsel geben
Da muss Deutschland vorangehen. Es hat den Eindruck zugelassen, dass die Länder auf den Migrationsrouten ihre Pflicht zur Registrierung und Aufnahme ignorieren und die Migranten einfach durchlassen dürfen, weil sie ja ohnehin nach Deutschland (oder Schweden) wollen und diese aufnehmen. Deshalb muss auch das Signal zum Kurswechsel aus Berlin kommen. Tusk findet es zumutbar, dass die EU-Staaten den Zufluchtsuchenden ihr Aufnahmeland zuweisen.
Das würde nicht funktionieren? Anfangs wohl nicht freiwillig. Etwas Druck, damit sich Migranten aus Eigeninteresse unterordnen, gehört dazu. Zum Beispiel kann man den Anspruch auf staatliche Leistungen auf die beschränken, die sich im ersten EU-Land auf ihrer Route registrieren lassen – und die später an dem ihnen zugewiesenen Ort bleiben. So, wie es Europas Ordnung vorsieht. Wer sich ihr entzieht, ist auf sich selbst gestellt.