Gibt es zu viele Akademiker?: Nur der studierte Mensch gilt als guter Mensch
Die Erhöhung der Akademikerquote wird als alternativlos dargestellt. Dabei hat der Drang an Deutschlands Universitäten auch mit Abstiegsangst zu tun - und mit dem Streben nach Selbstoptimierung.
Kürzlich stand in der Zeitung: „Nach dreieinhalb Jahren ist der große Moment gekommen: Das Examensbaby ist da.“ Es ging darum, dass nun auch für Hebammen ein Studiengang angeboten wird. Nach vier Jahren wartet die Masterprüfung. Auch der Bachelor ist im Angebot, an der Katholischen Hochschule Köln zum Beispiel. Dort säßen grauhaarige Frauen, die seit 20 Jahren arbeiten und nun erstmals auch theoretisch lernen würden, was ihren Beruf ausmache, sagt die dortige Studiengangsleiterin.
Die Hebammen sind nur ein Beispiel. So gibt es inzwischen 93 Pflegeberufe mit Bachelorabschluss. Noch nie verfügte Deutschland über dermaßen viele Akademiker, zumindest auf dem Papier. Im vergangenen Herbst warnte der frühere Kulturstaatsminister Julian Nida-Rümelin schon vor einem „Akademisierungswahn“. Bald gäbe es mehr Studenten als Lehrlinge im Land, beklagte der Philosophieprofessor. Nun mag man Nida-Rümelins Kritik als die Sehnsucht eines SPD-Bildungsaufsteigers nach der alten Ordinarienuniversität abtun, an der ein kleiner Kreis von Oberseminarstudenten dem Lehrstuhlinhaber huldigte.
Aber tatsächlich ist der Drang nach einer Verwissenschaftlichung der Ausbildung – und damit auch des Zusammenlebens insgesamt – kaum zu übersehen. Er ist zu einer Art apodiktischem Selbstläufer geworden. Weil er ökonomisch begründet wird („Die Aufgaben in der modernen Welt werden immer komplexer“), wird er kaum noch ernsthaft hinterfragt – es sei denn, man handelt aus Eigeninteresse, wie zum Beispiel die Handwerksverbände, die ihre Felle auf dem Lehrlingsmarkt davonschwimmen sehen.
Von der Politik jedenfalls können sie kaum Hilfe erwarten. Die in Physik promovierte Bundeskanzlerin rief vor Jahren die „Bildungsrepublik Deutschland“ aus. Und ähnlich wie in der Zuwanderungsfrage wird eine Steigerung der Akademikerquote seit Jahren allein schon deshalb für alternativlos erklärt, weil das Land ansonsten bald nicht mehr wettbewerbsfähig sei.
Ganze Lebensbereiche werden verwissenschaftlicht
Das mag alles sein, dennoch verändert die Verwissenschaftlichung ganzer Lebensbereiche auch gesellschaftliche Wertigkeiten. Menschen mit Wissenschaftshintergrund bilden inzwischen wohl die Gruppe im Land, die man am besten von anderen abgrenzen kann: Junge Großstadtakademiker haben kaum noch Kontakt zu Menschen ohne Hochschulzertifikat, außer an der Supermarktkasse oder wenn die Waschmaschine repariert werden muss.
Der Drang nach dem Uni- oder FH-Abschluss steht auch für die Abstiegsängste der Mittelschicht: Diese beginnen schon beim Wechsel auf das Gymnasium, wo sich Eltern zunehmend über Lehrerempfehlungen hinwegsetzen, weil sie einen sozialen Statusverlust ihrer Kinder fürchten. Wo sonst überall Unsicherheiten aufscheinen, soll wenigstens ein Diplom mit Siegel Halt geben. Da spielt es auch keine Rolle, dass viele Uniabsolventen heute in Berufen arbeiten, für die ihre Mütter und Väter problemlos mit einem Realschulabschluss ausgekommen sind.
Der Bundestag ist zum Akademikerparlament geworden
Der Berliner Soziologe Hans-Peter Müller schrieb kürzlich in der „Neuen Zürcher Zeitung“: „Der gute Mensch, wert- und würdevoll, ist der homo academicus.“ Das habe auch damit zu tun, dass man von Bildung nie genug haben könne, ähnlich wie von Geld. Kaum überraschend bildet sich dies auch in der Politik ab. Es ist erstaunlich, dass alle Parteien für sich in Anspruch nehmen, die Gesellschaft in ihrer ganzen Breite vertreten zu wollen – wo doch der Bundestag mit einem Anteil von mehr als 90 Prozent zum Akademikerparlament geworden ist, während laut Statistischem Bundesamt nur 15 Prozent der Bevölkerung eine Uni besucht haben. Dementsprechend werden Entscheidungen gerne an Expertengremien und Enquetekommissionen ausgelagert – das wissenschaftliche Argument genießt in der Politik den Nimbus der Unangreifbarkeit.
So hat die Verwissenschaftlichung von Politik und Gesellschaft viel mit dem unbegrenzten Glauben an die Formbarkeit des Menschen und mit dem Wunsch nach Selbstoptimierung zu tun. Suggeriert wird, dass der Mensch sich jederzeit von außen betrachten kann – und nach rationalen Maßstäben vermessen werden kann. Manchmal ist die Welt aber auch banaler. Eine frisch gekürte Professorin für Pflegewissenschaft sagt, es gebe ein großes Interesse an ihren Absolventen, aber nur eine geringe Vorstellung davon, was diese könnten: „Da heißt es dann manchmal: Die sollen keine Fragen stellen, sondern arbeiten.“
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