Beschneidungs-Urteil: Im Zweifel liberal
Die weitgehend säkularisierte Öffentlichkeit hat es versäumt, selbstbewusst ihre liberale Überzeugung zu definieren. Vielleicht führt sie deshalb nun erbittert Stellvertreter-Religionskriege - wie die Beschneidungs-Diskussion zeigt.
Es scheint nur um das Verhältnis von Staat und Religion zu gehen – was schon eine ganze Menge wäre. Aber hinter der manchmal überlauten Debatte um die Beschneidung steckt doch mehr. Ein Zeigefinger weist spätestens seit dem Urteil des Kölner Landgerichts auf die Gläubigen, diese vormodernen Barbaren, die das Abschneiden der Vorhaut kleiner Jungen zum rituellen Kernbestand erklären. Vier Finger weisen aber in die Gegenrichtung: auf eine säkulare, liberale Gesellschaft, die sich ihrer selbst so unsicher geworden zu sein scheint, dass sie Selbstgewissheit in der Abgrenzung sucht gegen jene vormodernen Reste. Seht her, wir sind aufgeklärt, wir fallen nicht auf irrationalen Popanz rein. Ihr nennt es heilig, wir nennen es beim richtigen Namen. Körperverletzung.
Wäre der Name der – einzig – richtige, ließe sich gegen das Urteil wenig einwenden. Doch Zweifel sind angebracht. Wenn die Weltgesundheitsorganisation weltweit sogar für Beschneidung werbe, meint der Münchner Religionsverfassungsrechtler Christian Walter, dann müsse die Frage erlaubt sein, ob diese Praxis „in Deutschland dem Verdikt der rechtswidrigen Körperverletzung unterfallen kann“.
Bleibt das religiöse Motiv als eigentlicher Stein des Anstoßes. Aber woher diese Angst vor dem Religiösen? Sie erscheint selbst irrational in diesem Teil der Welt, wo es in vielen Jahrhunderten Arbeit glücklicherweise gelungen ist, die politische Macht der Religion zu brechen. Im Großen und Ganzen jedenfalls. Die Steuer- und Arbeitsrechtsprivilegien der deutschen Kirchen, ihre Rolle im Bildungssystem, die Macht der Orthodoxie in Griechenland oder der Staatskirchen in Großbritannien und Skandinavien strafen nach wie vor die Behauptung Lügen, in Europa seien Staat und Kirche getrennt. Aber man hat sich lange arrangiert und, etwas feige, so die eigenen liberalen Überzeugungen kompromittiert.
Statt selbstbewusst die Grenzen neu abzustecken, hat sich eine weitgehend säkularisierte Öffentlichkeit weggeduckt. Und führt vielleicht deshalb so erbittert Stellvertreter-Religionskriege gegen religiöse Neuankömmlinge – oder jene, die man dafür hält. Dass das Beschneidungsurteil zwar einen muslimischen Fall entschied, aber auch Juden trifft, zeigt, wie wenig selbst sie noch immer als Teil des „Wir“ angesehen werden. Um das zu sehen, muss man nicht, wie soeben Europas Rabbinervereinigung, das Kölner Urteil in die Nähe des Holocaust rücken.
Und beim Versuch, die religiöse Gefahr einzudämmen, geht gleich noch ein anderer liberaler Grundsatz über Bord, ohne dass viel Federlesens gemacht würde. Dass es nämlich Ecken des Lebens gibt, wo der Staat sich Eingriffe mindestens wohl überlegen sollte. Die Familie ist eine davon. So gut es ist, dass aus elterlicher Gewalt in den vergangenen Jahrzehnten elterliche Sorge geworden ist, so sehr ist Erziehung doch immer noch tendenziell autoritär. Wo Familien der Eingang zur Hölle sind – und nirgendwo außerhalb von Diktaturen gibt es mehr Missbrauch und Gewalt –, muss es Mittel von außen geben. Aber Familien können auch die frühesten Orte von Geborgenheit sein, hier kann der Anfang von gutem Leben liegen. Und es gibt keine wirklich überzeugenden Alternativen. Deshalb ist es heikel, sie unter Generalverdacht zu stellen. Und es ist wenig liberal, eine Institution staatlich zu reglementieren, in der Selbstbestimmung, auch Rebellion eingeübt werden kann.
Auch das tut das Kölner Urteil. Und zeigt sich auch dabei unnötig ängstlich. Religiöse Erziehung lässt sich erstens nicht ohne Weiteres bis zur Religionsmündigkeit mit 14 Jahren verschieben; sie ist auch jahrelange Einübung in Riten, Bildersprache, Kultur. Zweitens aber ist sie zum Glück kein Schicksal. Ob Giordano Bruno oder Baruch Spinoza: Die klügsten und folgenreichsten Häretiker waren nie gebürtige Atheisten, sondern immer in der Furcht Gottes Erzogene. Entsprechend hart wurden sie von den Ihren in Kirche und Synagoge verfolgt.
Eine aufgeklärte Gesellschaft verfolgt aber ihre Häretiker nicht. Akzeptanz – auch des Religiösen – ist vielmehr ihr Markenzeichen.
Andrea Dernbach
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