Gentechnik: Ideologie statt Aufklärung
In Schülerlaboren konnten niedersächsische Kinder und Jugendliche seit 2006 mit Gentechnik experimentieren. Der neue grüne Landwirtschaftsminister will das Vorzeigeprojekt beenden.
Desoxyribonukleinsäure. Das Wort rollt nicht gerade von der Zunge und auch die Politik hat ihre liebe Mühe mit dem Molekül. Ob Stammzellen, grüne Gentechnik, Präimplantationsdiagnostik: Immer geht es darum, das Erbgutmolekül auszulesen, abzuändern, umzuformen. Und immer wird es kontrovers. Vielleicht kommt das Molekül deswegen so selten in Sonntagsreden vor.
Bildung dagegen kommt ständig in Sonntagsreden vor. Deutschland habe kaum Rohstoffe, heißt es dann, außer den Gedanken der Menschen. Die Schüler müssten fit werden für den Wettkampf mit China, Indien und anderen aufstrebenden Wirtschaftsmächten. Dann muss der Politiker noch sagen: „Fachkräftemangel“ und „Zukunftstechnologien“ und „Innovation“. Fertig ist die Sonntagsrede.
In Hannover haben das ein paar Menschen wörtlich genommen und 2006 ein interessantes Projekt gestartet, „HannoverGen“. An vier Schulen in Niedersachsen wurden Labors eingerichtet, die von den Schülern dieser und anderer Schulen genutzt werden können. Sie können dort ihr eigenes Erbgut isolieren oder überprüfen, ob in den Cornflakes, die sie zum Frühstück gegessen haben, gentechnisch veränderter Mais enthalten war.
So lernen Oberstufenschüler die Grundlagen einer Zukunftstechnologie kennen. Vielleicht werden sie sogar einmal Fachkräfte. Vor allem aber lernen sie, was Desoxyribonukleinsäure eigentlich ist, das Molekül, das Menschen nutzen, um Mordfälle aufzuklären, Lebensmittel zu überprüfen, Krebs gezielt zu bekämpfen und Pflanzen wie Mais resistent zu machen gegen manche Pflanzenschutzmittel.
Das alles heißt nicht, dass diese Schüler nachher irgendetwas davon gut finden. Aber sie wissen, worüber sie reden. Das ist ja das Tolle an Bildung: Sie erlaubt es dem Menschen, eine eigene Meinung zu vertreten ohne sich zum Deppen zu machen.
Das hat offenbar ganz gut funktioniert. Die Rückmeldungen von Lehrern und Schülern waren positiv. Die Landesregierung, die das Projekt zu 97 Prozent bezahlte, war zufrieden. „HannoverGen“ sollte auf 100 Schulen ausgedehnt werden. 2011 wurde das Projekt als „Ort der Ideen“ ausgezeichnet.
Dann kamen die Wahlen und nun sieht alles ganz anders aus. Im Abschnitt „Gentechnikfreies Niedersachsen“ heißt es im Koalitionsvertrag lapidar: „Das Projekt HannoverGEN wird beendet.“ Das heißt: Nicht nur die Felder sollen gentechnikfrei sein, auch die Gedanken der Schüler.
Natürlich, die Gentechnikgegner treibt die (nicht unberechtigte Sorge) um, dass Menschen, die sich intensiv mit den Grundlagen der Genetik auseinandergesetzt haben und schon einmal Erbgut aus ihrem Essen isoliert haben, nicht ganz so empfänglich sind für Schreckensszenarien. Das ist das andere Tolle an Bildung: Sie lässt Menschen merken, wenn jemand eine vorgefasste Meinung mit vorgeschobenen Argumenten begründet.
Also haben sich die Politiker in Niedersachsen gegen die Bildung entschieden. Man könnte auch sagen: Die neue Landesregierung bevorzugt Deppen. Ideologie statt Aufklärung. Diktat statt Diskussion. Als Argumente führen sie an, die Unterrichtsmaterialien seien nicht ausgewogen. Außerdem kämen drei Prozent der Finanzierung von der Industrie. „Reklame für genmanipuliertes Essen in Schulkantinen“ hat der neue grüne Landwirtschaftsminister Christian Meyer das genannt.
Schulleiter und Schüler sehen das anders. Mit Unterschriftenaktionen versuchen sie, das Projekt zu retten. Man muss sich das einmal auf der Zunge zergehen lassen: Da versuchen also Lehrer und Schüler gegen den Widerstand der Politik, Erfahrungen machen zu dürfen mit einer Schlüsseltechnologie des 21. Jahrhunderts.
Nicht jede Unterrichtsstunde über den Holocaust produziert Antisemiten. Und nicht jeder Schüler, der einmal im Genlabor gestanden hat, wird deshalb später bei Monsanto arbeiten. Vielleicht landet er in der Rechtsmedizin, in der Lebensmittelsicherheit oder im Umweltschutz. Vielleicht wird er sogar Politiker. Schaden würde das nicht. Denn viele von ihnen wissen erschreckend wenig über Wissenschaft. Vielleicht kommt die Desoxyribonukleinsäure auch deswegen so selten in Sonntagsreden vor.
Kai Kupferschmidt
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