WM-Party in Berlin: Hauptstadt des Wow
2006 stritten die Nationalspieler noch, ob sie ihren dritten Platz in Berlin oder Stuttgart feiern sollten. 2014 versteht sich Berlin von selbst. Das ist auch ein Auftrag an die Hauptstadt.
Schon 2006 und 2008 kamen sie zum Brandenburger Tor, als Dritter, als Zweiter, auch da tobten die Fans. Aber das schönste und größte Hauptstadtsommermärchen hat Berlin am gestrigen Dienstag erlebt. Wir-Gefühl pur mit den Weltmeistern aus Brasilien, mit Sonnenschein, frischem Wind und fast einer halben Million fröhlicher Menschen. Wenn einer was erlebt hat in der Welt und zum Feiern heimkommt nach Deutschland, wo will er dann hin? Klar, nach Berlin. Das nicht gerade spektakuläre Regierungsviertel gibt eine prächtige Kulisse für den Konvoi mit dem offenen Mannschaftswagen ab. Alles schaut auf diese Stadt, samt Hauptbahnhof, Kanzleramt, Spreeufer und Pariser Platz, und der Siegerflieger zieht eine Extraschleife am Himmel über Berlin. Wo bitte lässt sich der vierte Stern besser feiern als auf dem Boulevard zum Großen Stern? Wo bitte finden die Fußballer-WGs aus der WM-Kommune in Campo Bahia eine bessere Bühne für ihre Impro-Auftritte samt Luftgitarre, Polonaise und Döner-Witzen als in Berlin, der Hauptstadt der Improvisation und der Wohngemeinschaften?
Alle wollen nach Berlin
Wer immer aus Rest-Deutschland nicht live dabei sein kann, als die Weltmeister das Brandenburger Tor rocken, der twittert euphorisch: „Ich will auch nach Berlin!“ Mit Grüßen aus Sachsen, Sülzetal und Schleswig-Holstein, mit köllschen „Jlückwünschen“ und der Bemerkung, die Loveparade sei ein Kindergeburtstag dagegen gewesen. Fernzüge halten an, Ausflugsdampfer stoppen: Berlin ist die Wow-Stadt aller Deutschen. Erinnert sich eigentlich noch jemand daran, wie die Nationalelf bei der WM 2006 darüber stritt, ob sie zur Bronze-Fan-Party überhaupt nach Berlin kommen soll? Oliver Kahn zum Beispiel wollte nicht richtig. Alternativ wurden Stuttgart, der Austragungsort, und wie ehedem der Frankfurter Römer erwogen. 2014 versteht Berlin sich von selbst. Jedenfalls bei den Bundesbürgern.
Hier schlägt das Herz der Nation
„Das Nähere wird durch Bundesgesetz geregelt“, heißt es in Artikel 22 des Grundgesetzes, das Berlin zur Hauptstadt erklärt und dem Bund die Repräsentation des Staates eben hier überantwortet. Nur das Gesetz, das alles Nähere regelt, gibt es bis heute nicht. Dabei ist es höchste Zeit, 25 Jahre nach dem Mauerfall. Längst haben die Deutschen mit den Füßen darüber abgestimmt, dass Berlin ihre Stadt ist. Hier schlägt das Herz der Nation, hier steht das Tor sperrangelweit offen, hier ist Platz für alle. Für schwarzrot-goldene Irokesenschnitte genauso wie für nationalfarbig bemalte Kleinkinder, für Cliquen, Rentner und Großfamilien, Männer, Frauen und alle anderen Geschlechter. Für die Zugezogenen aus aller Welt und die Touristen sowieso.
Ein perfekter Auftritt
Und es läuft wie am Schnürchen. Die Polizei, die Sicherheitskräfte, die Organisatoren, sie erledigen cool ihren Job. Berlin hat Übung mit dem Hauptstadtalltag zwischen Fanmeile, Marathonlauf, Karneval der Kulturen, Staatsoper für alle und dem Finalspiel der Champions League 2015 im Olympiastadion. Das BER-Debakel? Die Metropole-oder-Posemuckel-Debatte nach dem Volksentscheid zum Tempelhofer Feld? Die ewig zaudernde Stadtentwicklung? Klaus Wowereits Durchwursteleien? Vergiss die Landespolitik, der Bund ist am Zug.
Sternstunden, zumal Vier-Sterne-Stunden, sind auch Momente der Selbstbeschwörung. Berlin hat bei der Fan-Party einen Traum von sich selber geträumt. Den Traum einer Stadt des Teamgeists, der Solidarität, der Völkerverständigung und Inklusion, in der Misstöne wie die blöde Verhöhnung des Finalgegners Argentinien durch Klose und Co. nach Kräften ausgebuht werden sollten. Das Leben ist hart, man rackert sich ab und trägt Schweinsteiger’sche Blessuren davon. Dass man der Härte in Berlin auch mit soft skills begegnet, mit Sozialkompetenz und Verantwortungsgefühl fürs Kollektiv, passt zum WM-Sieg der Deutschen. „Wir sind alle Weltmeister“: Jogi Löws Motto beschwört auch diesen Wunsch. Möge es auf Arbeit und in der Gesellschaft ähnlich zugehen wie beim Spiel der Deutschen in Brasilien.
Weltoffenheit als Auftrag
Berlin war am Dienstag die Hauptstadt der Willkommenskultur. In einer Metropole, die von Flüchtlingen in einer Kreuzberger Schule überfordert ist. In einer sportbegeisterten Stadt, die sich schwertut mit einer Olympia-Bewerbung für 2024. In einem Einwanderungsland, das mit Asyl und Bleiberecht geizt und dessen Bildungspolitik der Internationalität seiner Hochschulen hinterherhinkt. Weltoffenheit ist ein schönes Gefühl. Aber auch ein Versprechen, ein Auftrag, zuallererst für Berlin.
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