Nationalspieler in Berlin: Eine Meile Freudentaumel
Auf der Fanmeile wartet fast eine halbe Million Menschen auf die deutsche Fußball-Nationalelf. Als die Spieler endlich am Brandenburger Tor ankommen, entlädt sich die Anspannung. Eines ist auf jeden Fall klar: Mit dem Spaß meint man es ernst.
Gleich müssen sie kommen. Die Helden, wie sie der Moderator auf der Fanmeile bezeichnet. Unsere Jungs, wie viele der mehr als 400 000 seligen Fans sie nennen. Die Weltmeister, wie es seit Sonntagabend offiziell in den Fußball-Geschichtsbüchern steht. Aber noch schiebt sich der Bus durch die Straßen, die deutsche Nationalmannschaft kommt auf ihrem Siegeszug kaum voran.
Aber gleich müssen sie kommen, bestimmt.
An der Ecke Dorotheenstraße und Wilhelmstraße drängelt sich eine Menschenmenge. Auch an den Fenstern der Büros im Regierungsviertel wird gedrängelt, dicht an dicht hinter dicken Glasscheiben. Die da oben, die da unten, alle warten, gleich müssen sie kommen. Auf der Straße schnellen plötzlich Smartphones und Fotoapparate in die Höhe und filmen die Hinterköpfe der Vorderleute, erst kommt die Polizeieskorte, dann rollt der Bus im Schneckentempo vorbei. Ein in eine schwarz-rot-goldene Fahne gehüllter Obdachloser erhebt sich von seinem Platz auf dem Bürgersteig und reckt den Hals, um etwas erkennen zu können. Mertesacker stemmt den Pokal zum x-ten Mal in die Höhe, Müller fordert gestenreich mehr Lärm, Schweinsteiger dirigiert. Klatschen, Jubeln, Gröhlen, Pfeifen, Fotos von oben, Fotos von unten. Das Gefühl, dabei gewesen zu sein.
Ja, wobei eigentlich?
Es ist Dienstag, der 15. Juli 2014. Tag zwei nach dem Finale von Rio de Janeiro, nach Götzes 1:0 in der 113. Minute, nach dem vierten WM-Titel für die deutschen Fußballer. Das wollen viele Menschen feiern, ganz nah dran sein. Am Pokal, an der Mannschaft, am Triumph. Fast eine halbe Million ist zur Fanmeile gekommen, nicht nur aus Berlin, sondern auch vom Bodensee, aus Thüringen und aus Darmstadt. Sie alle warten, seit Stunden.
Warten? Worauf eigentlich?
An einem Eingang der Fanmeile, gleich gegenüber vom Reichstag, steht schon morgens um 8 Uhr ein rundlicher Mann. Er sieht glücklich aus und feierlich, auch wenn er eine Latzhose in Kuhfell-Optik anhat. Der Mann blickt den Menschen, die an ihm vorbeigehen, sehr ernst in die Augen, hin und wieder sagt er – halb zu sich selbst und halb zu allen anderen: „Nach 24 Jahren. Endlich.“ Vor 24 Jahren ist Deutschland das bislang letzte Mal Weltmeister geworden, 1990 in Rom. Die allermeisten Besucher der Fanmeile waren da noch nicht geboren. Trotzdem recken 16-Jährige Plakate in die Höhe, auf denen sie den „vierten Stern“, den vierten WM-Titel feiern.
Das Brandenburger Tor, das wie kein zweites Gebäude für deutsche Geschichte steht, wird von der riesigen Bühne fast komplett verdeckt. Die Mannschaft schwebt in Lufthansaflug LH2014 noch irgendwo über dem Atlantik, aber hier unten wird schon alles vorbereitet. Die Moderatoren von ARD und ZDF, die nachher die Spieler interviewen werden, kommen auf die Bühne geschlendert und erklären über die Lautsprecher, worum es geht. „Wir müssen proben, was wir nachher hier machen. Die Bilder werden um die Welt gehen und noch in 30, 40 Jahren zu sehen sein“, sagt der ARD-Mann. „Benehmt euch entsprechend. Nehmt die Finger aus der Nase, kämmt euch nochmal die Haare.“ Der ZDF-Mann fügt hinzu: „Und seid laut! Kreischt sie an! Schreit sie an!“ Gleich soll der Spaß beginnen, es wird ernst.
Es geht hier um Deutschland, so steht es auf unzähligen Trikots. Das zeigen all die schwarz-rot-goldenen Fahnen mit dem mäßig dezenten Sponsorenlogo, die am Eingang verteilt werden, ein Junge schnappt sich gleich zehn Stück. Aber nicht in jedem Hemd, auf dem Deutschland draufsteht, ist auch Deutschland drin. Immer wieder hört man Trikotträger Spanisch, Englisch oder Chinesisch sprechen. Gab es das schon mal, dass so viele Menschen unterschiedlichster Nationalitäten sich mit Deutschland identifiziert haben? Sich an diesem Tag vielleicht ein bisschen deutsch fühlen wollten?
Und was heißt das überhaupt, sich deutsch zu fühlen?
An diesem Dienstagvormittag heißt es zunächst einmal, ein bisschen zu leiden. Es ist heiß, nach unzähligen Regengüssen in den WM-Wochen knallt jetzt die Sonne vom Himmel. Die Organisatoren melden, dass die Eingänge der Fanmeile wegen drohender Überfüllung geschlossen werden. Klaus Wowereit ist drin, später wird er die Mannschaft in Empfang nehmen, jetzt lässt sich der Regierende Bürgermeister ein bisschen treiben. Schnell ist Wowereit umringt und posiert gut gelaunt für Fotos, sein makellos blauer Anzug scheint resistent gegen Schminke und Schweiß. „Ein Selfie für mich, bitte?“, fragt ein Mann, der sich eine schwarz-rot-goldene Irokesenfrisur aufgesetzt hat. Ein kleiner Junge fragt: „Bist du der Bürgermeister?“ Eine Gruppe Kinder umringt Wowereit, auf das Kommando einer Mutter – „So, ihr Mäuse, jetzt singt mal was – piepsen sie: „So seh’n Sieger aus, schalalalala!“ Wowereit nickt zufrieden. „Super, da kriegt ihr bestimmt eine 1 ins Musik.“
Im Vip-Bereich schüttelt Wowereits Stellvertreter und Innensenator Frank Henkel gerade Marius Müller-Westernhagen die Hand, der zuvor mit Kultur-Staatssekretär Tim Renner geplauscht hat. Auf der Tribüne lächelt die ehemalige Grünen-Chefin Renate Künast. Am 15. Juli 2014 ist in diesem Land nichts so konsensfähig wie die Fußball-Nationalmannschaft. Um kurz nach zehn Uhr brüllt der Anheizer auf der Fanmeilenbühne: „Kopf in’n Nacken, da kommt Flug LH 2014! Da kommt der Weltmeister.“ Von der Siegessäule her fliegt brummt das Flugzeug der deutschen Fußballer über 400 000 Köpfe hinweg Richtung Osten, zum ersten Mal passiert wirklich etwas, Jubel brandet auf.
„Poldi, nimm mich mit in den Urlaub“
Jetzt rückt der große Moment näher, die Vorbereitungen werden hektischer. Eine Teenagerin – schwarz-rot-goldene Fingernägel, DFB-Stutzen, Podolski-Trikot, abgeschnittene Jeans, große Sonnenbrille – pinselt auf die Schnelle noch ein Plakat. „Poldi, nimm mich mit in den Urlaub“ schreibt sie. Lukas Podolski wird das Plakat nie zu sehen bekommen, das Mädchen steht rund 40 Meter von der Bühne entfernt, näher heran kommt man längst nicht mehr. Aber das scheint dem Mädchen egal zu sein, sie zieht die schwarzen Buchstaben noch einmal mit einem pinken Stift nach. Drei Männer schieben sich durchs Gedränge, auf den Schultern längliche Pakete. Ein strenger Ordner mit Sonnenbrille, schwarzen Handschuhen und tätowierten Unterarmen hält sie auf. „Das sind alles Fahnen, die müssen hinten verteilt werden“, keucht einer der Träger, der Ordner macht schnell den Weg frei. Eine Gruppe in Deutschland-Shirts hält er aber auf, bis sie sich als Polizisten in Zivil ausweisen.
In Zivil, das heißt an diesem Tag: im Trikot.
Auf der großen Videoleinwand wird jetzt gezeigt, wie das Flugzeug der Nationalmannschaft in Tegel landet. Auch am Flughafen haben sich Tausende Fans versammelt, die irgendwie dabei sein wollen. Per Twitter, Facebook und Fernseher haben sie verfolgen können, wie es den Spielern im Flugzeug ergangen ist. Die ARD hat im Morgenmagazin exklusiv vermeldet, alles sei ruhig an Bord, die meisten Spieler würden schlafen. Jetzt sind sie aber wach, die Flugzeugtür öffnet sich, Kapitän Lahm schlendert die Gangway herunter, den Pokal im Arm, ohne große Geste. Unten warten schon die Reporter und die Wand mit den Sponsorenlogos, die die Nationalmannschaft in den vergangenen Wochen um die Welt begleitet haben. Wo die deutschen Fußballer auch hinkommen – ihre Werbepartner sind längst da.
Werbung scheint niemanden ernsthaft zu stören
Auch auf der Fanmeile läuft alle paar Minute der Werbespot einer großen Automarke auf dem Bildschirm, die Klatschpappen tragen Logos, die Fahnen tragen Logos, die Fanmeile heißt eigentlich offizielle „Hyundai Fan Park Berlin“. Diesen Begriff verwendet der Einpeitscher dankenswerterweise nicht, er stellt jetzt alle Spieler noch einmal namentlich vor. Dafür könnte man Fotos der Fußballer zeigen, oder ihre Trikotnummer, oder eine mitreißende Szene von der WM, irgendwas. Die Fanmeilen-Regie blendet Coladosen ein, auf denen die Vornamen der Spieler gedruckt sind.
Die Werbung scheint niemanden ernsthaft zu stören. In Stadien im ganzen Land wehren sich Fußballfans gegen die Kommerzialisierung ihres Sports, die Besucher der Fanmeile sind seit der Heim-WM 2006 und dem einsetzenden Fußball-Boom damit sozialisiert worden. Sie stören sich nicht daran, dass über die Lautsprecher „Three Lions on a shirt“ dröhnt, die Hymne der englischen Nationalmannschaft. Sie feiern, dass der Österreicher DJ Ötzi auf der Bühne „Ein Stern, der Jogis Namen trägt“ singt und danach ein Song des Schweizers DJ Bobo gespielt wird. Solange ein Lied Stimmung macht, wird es angenommen. Es stört auch niemanden, dass der Moderator immer wieder von Publikum wissen will, wie viele Tore die Brasilianer eigentlich im Halbfinale kassiert haben.
Was bedeutet er, dieser WM-Titel 2014?
Die Nationalmannschaft hat inzwischen einen Bus bestiegen, in Moabit haben sie das handelsübliche Gefährt gegen einen Cabrio-Version getauscht. Die Kamera eines Hubschraubers überträgt, wie sich das Team Richtung Fanmeile in Bewegung setzt. An der Justizvollzugsanstalt Moabit winken die Insassen aus den Fenster, der Bus wird immer langsamer, weil immer mehr Leute an den Straßenrändern stehen.
„Wenn man Berlin so aus der Luft sieht, erkennt man erst, wie schön die Stadt angelegt ist“, sagt ein Mann, weißes Trikot, zu seinem Nachbarn, rotes Trikot. Die beiden kennen sich nicht, stehen mittlerweile aber seit fünf Stunden nebeneinander. Von oben sieht bestimmt auch die Fanmeile gigantisch aus, mit Abstand kann auch der WM-Titel noch mehr Bedeutung bekommen. Wird er in einigen Jahren so aufgeladen sein wie der von 1954? Wird er so verklärt werden wie der Wiedervereinigungstraum von 1990?
Was bedeutet er, dieser WM-Titel 2014? Muss ein Fußball-Erfolg etwas bedeuten?
„Was wäre eigentlich, wenn wir alle hier uns aus einem anderen Grund zusammenschließen würden?“, fragt der Mann im roten Trikot den Mann im weißen Trikot. „Um etwas zu erreichen? Wenn wir sagen, nächste Woche treffen wir uns wieder hier?“ Dass das nicht nicht passieren wird, wissen beide. Aber das Wir-Gefühl, das die Mannschaft in Brasilien getragen hat und auch auf der friedlichen Fanmeile zu herrschen scheint, könnte tatsächlich zu so etwas wie der Botschaft des Titelgewinns werden.
Während der Cabrio-Bus weiter nur langsam vorankommt, hat der Jumbojet des deutschen Teams in Tegel noch einmal abgehoben und dreht eine Schleife über Berlin, er muss eine Art Sondergenehmigung haben. Von unten sieht das Flugzeug wahnsinnig massiv und gleichzeitig schwerelos aus. Alle Köpfe auf der Fanmeile gehen noch einmal nach oben, auf vielen Gesichtern liegt ein Lächeln. Unglaublich, dass so etwas Schweres fliegt. Unglaublich, dass ein so schweres Land sich manchmal so leicht fühlen kann. Dann brüllt der Einheizer: „Das sind die Argentinier, die fliegen nach Hause.“
Zehntausende Köpfe drehen sich nach den Klose-Zwillingen
Die Laune des strengen Ordners hat sich inzwischen gebessert, er spritzt Wasser aus einer Plastikflasche in die überhitze Menge und filmt die Bühne mit seinem Handy. Kurz nach 12 Uhr entdeckt irgendjemand Miroslav Kloses Zwillingssöhne Noah und Luan Klose auf der Vip-Tribüne, Zehntausende Köpfe drehen sich, wieder gehen Kameras und Smartphones in die Höhe. Die beiden Neunjährigen lächeln unsicher, als die Zuschauer ihren Vater feiern und die beiden zur La Ola auffordern.
Kurz nach 13 Uhr, viele Menschen warten inzwischen seit sechs Stunden, ist hinter dem Brandenburger Tor der Bus angekommen. Wowereit trägt nun ein Trikot unter seinem Sakko, die Spieler tragen sich ins Goldene Buch der Stadt ein. Zwei junge Männer haben einen Ampelmast erklommen, der Einpeitscher pfeift sie zurück, „sonst kommt hier kein Spieler auf die Bühne“. ARD und ZDF übernehmen die Regie und bitten zuerst das Trainerteam auf die Bühne. Joachim Löws Assistenten schubsen den Bundestrainer nach vorn. Was der 54-Jährige im Interview erzählt, interessiert niemanden wirklich, seine Stimme wird von „Jogi Löw“-Sprechchören und „Fußballgott, Fußballgott“-Gesängen übertönt. „Wir sind alle Weltmeister“, sagt Löw noch, er kämpft sichtlich mit den Tränen, dann versteckt er seine Augen wieder hinter einer Sonnenbrille.
Die Profis albern, tanzen und hüpfen wild durcheinander
Bis dahin wirkt die ganze Feier immer noch ein bisschen steif. Man fragt sich: Wie kann eine dampfende, schwitzende Menge bei dröhnender Musik so wenig Euphorie, so wenig Exzess ausstrahlen? Das ändert sich, als die Spieler nach und nach auf die Bühne kommen. Man merkt den Fußballern an, dass sie schon seit zwei Tagen feiern, die sonst so disziplinierten Profis albern, tanzen, grölen, hüpfen wild durcheinander. Klose, ansonsten am Mikrofon stets mit schleppender Stimme, hebt zu einem Spottgesang auf die Argentinier an. Schweinsteiger und Draxler machen sich über den vermeintlich disziplinlosen Großkreutz lustig. Ersatztorwart Weidenfeller berichtet, dass er sich nach dem Tor im Finale im Jubeltaumel plötzlich mitten auf dem Spielfeld wieder gefunden habe.
Auch die Fans leisten sich nun einen Kontrollverlust, schwenken ihre Fans wie von Sinnen, hechten kreischend nach den Bällen, die die Fußballer in die Menge schießen. Mario Götze, der Torschütze vom Finale im Maracana, sagt auch noch ein paar Worte. Götze ist 22 Jahre alt, auch er war 1990 noch nicht geboren. Insofern spricht Götze wohl für viele Anwesenden, als er den WM-Titel, die Feier auf der Fanmeile und den ganzen Tag als „ein Ding der Geschichte“ bezeichnet.
Natürlich wird noch einmal der WM-Song „Ein hoch auf uns“ des Sängers Andreas Bourani zum Besten gegeben, in dem es heißt: „Auf jetzt und ewig, auf einen Tag Unendlichkeit“. Für die Kinder, die vor ihm auf den Schultern ihrer Väter sitzen, ist Mario Götze der erste WM-Held. Niemand kann sagen, wann Deutschland wieder eine Fußball-Weltmeisterschaft gewinnt, wie alt diese Kinder dann sein werden, wie endlich oder unendlich diese Feier und dieser Titel ist.
Drei Mädchen, anscheinend auf Klassenfahrt. strahlen sich an, als sie die Fanmeile verlasse. „Ich hab ein Foto von Müller gemacht!“, sagt eine. „Ich zittere, guck mal, ich zittere!“, die andere. Die Dritte sagt: „Einmal in Berlin – und dann das! Wie viel Glück kann man haben?“
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