Kolumne: Greise ans Steuer!
Wer braucht noch Autos in einer Stadt mit steigender Lust aufs Rad und ausgezeichnetem Nahverkehr? Nur die Alten. Geben wir ihnen freie Fahrt.
Es wird eng in Berlin und alle merken’s. Der Grund dafür sind erst neuerdings die vielen Neuen, von denen derzeit alle Zeitungen, auch unsere, voll sind. Berlin zog aber auch vor den Flüchtlingen schon Menschen an, immer noch die meisten aus Europa, Deutsche eingeschlossen. Und auch wenn die Gründe, die Italiener, Spanier, Griechen nach Berlin treiben, nicht immer Erfreuliches sagen über die Lage in ihren Heimatländern: Es sind vor allem sehr, sehr viele Junge und gut Qualifizierte, die kommen. Berlin ist Krisengewinnlerin, mehr noch als andere deutsche Städte. Ein Grund, sich richtig zu freuen, wenn auch vielleicht nicht zu laut.
Es wäre allerdings auch ein Grund, umzusteuern, im wahrsten Sinne des Wortes. Auch wer noch das Dach einer preisgebundenen Mietskaserne überm Kopf hat und Berlins neue Enge nicht auf Wohnungssuche erleidet – auf den Straßen ist Enge für alle: Im Bürgerkrieg Rad gegen Automobil, auf Einkaufsstraßen, wo nichts mehr geht, weil beide Seiten zweireihig zugeparkt sind und Lieferwagen, die am Straßenrand keinen Platz finden, den Rest versperren.
Auto als Freiheitsversprechen
Mit dem Autoverkehr ist es – nicht nur in Berlin – ein bisschen wie mit anderen alten Traditionen: Auch wenn sie ihren Sinn längst verloren haben, wird der alte Trampelpfad so rasch nicht verlassen. In der Hauptstadt wächst der Fuß- und Radverkehr, aber die Logiken, die Ampelphasen, die Bauvorhaben stammen, allen Schwüren des Senats zum Trotz, im Wesentlichen noch aus den 60er- und 70er-Jahren, garniert mit ein paar Radständern zusätzlich. Die automobile Stadt ist im Reparaturbetrieb, aber sie ist. Dabei ließe sich auch einmal fragen, wer Autos überhaupt noch braucht. Wer, in einer Metropole mit traumhaft – ja, das stimmt trotz S-Bahn-Ärger und Schienenersatzverkehr mit Ewigkeitsgarantie – ausgebauten öffentlichen Verkehrsmitteln? Im Grunde gibt es da nur eine große Gruppe: die Alten. Die, die zwangsläufig Jahr um Jahr mehr Schwierigkeiten haben, sich in den Sattel zu schwingen und sich auf eigenen Füßen fortzubewegen, gewinnen am Steuer Autonomie und Beweglichkeit zurück. Für sie ist der eigene Wagen die Chance, ohne fremde Hilfe einzukaufen, zur Ärztin und zum Friseur zu kommen oder überhaupt die eigenen vier Wände zu verlassen. Und sie, die heutige alte Generation, ist die, für die das Auto auch mehr als für ihre Kinder und Enkel heute ein Freiheitsversprechen war.
Die mittleren Jahrgänge sind die tödlichsten
Lassen wir es ihnen. Und denen, die mögen, auch gern ihr Statussymbol. Für die Jungen läuft Distinktionsgewinn übers iPhone, der Führerschein mit 18 ist längst kein Muss mehr. Führen wir um Himmels willen keine altersdiskriminierenden Zwangsprüfungen für über 65-Jährige ein wie so viele europäische Nachbarn. Es sind ohnehin die 45- bis 55-Jährigen, die am häufigsten Unfälle bauen, bei denen Menschen verletzt oder getötet werden, gefolgt von denen zwischen 25 und 35 und der Kohorte danach. Greise ans Steuer! Wer sich die Statistiken ansieht, kann eigentlich nur zu diesem Schluss kommen. Auch wenn die Statistik ein wenig verfälscht wird, weil selten oberhalb der Rentengrenze nachgesehen wird. Jenseits der 75 steigt die Unfallhäufigkeit nämlich deutlich.
Fragt sich nur, wessen Schuld das ist. Dass Senioren die „komplexen Situationen“ auf den Straßen nicht mehr so gut überreißen wie 25-Jährige oder Leute um die 50, hat doch in erster Linie mit der Komplexität dieser Situationen zu tun. Entkomplizieren wir sie: Wo weniger Autos fahren, wird auch die Übersicht besser. Und mobile autonome Alte wären womöglich seltener auf die Komplettentmündigung im Altenheim verwiesen.
Der Hausfrauenpanzer ist kein Zukunftsmodell
Die Alternative dazu fährt längst schon über die Straßen und sie ist keine gute: Wenn die meist mit Mama und Kleinkind besetzten SUVs, auch als Hausfrauenpanzer verspottet, sich weiter ausbreiten wie bisher, wird selbst schrumpfender Autoverkehr keine Luft und keinen Platz mehr für anderen lassen. In den Parkhäusern kragt das adipöse Blech über die alten Markierungen hinaus und auf normalen innerstädtischen Straßen blockiert es den Radstreifen auch dann durch schiere Breite, wenn es ihm einmal nicht als Parkbucht dient. Zulassungsbeschränkungen oder radikale Parkraumbewirtschaftung mit Altersstaffelung? Wie die Autostadt der Alten Wirklichkeit werden kann, müsste eine Debatte herausfinden, die aber erst einmal begonnen werden sollte. Berlin, so jung und sexy, könnte da ein Altenprojekt mit echtem Sexappeal auflegen, ein Modell. First we take Berlin. Und dann schau’n wir mal weiter.
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