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Empört sich über das Leid der Kinder in Syrien: Friedensnobelpreisträger Desmond Tutu.
© dpa

Krieg in Syrien: "Es sind unsere Kinder, die sterben"

Der Bürgerkrieg in Syrien sollte nicht als ein komplexes politisches Problem betrachtet werden. Er ist vielmehr die größte humanitäre Katastrophe des 21. Jahrhunderts, schreibt Friedensnobelpreisträger Desmond Tutu in einem Beitrag für den Tagesspiegel. Es sind unsere Kinder, die sterben. Wo bleibt unsere Empörung darüber?

Noor - dies ist nicht ihr richtiger Name - ist eine hochschwangere 22-jährige syrische Frau. Sie strahlt eine besondere Erleichterung aus. Erst vor zwei Wochen erreichte sie hungrig und erschöpft gemeinsam mit ihren drei Kindern das Za'atari Flüchtlingslager in Jordanien. Nicht die ständige Gewalt, sondern der Hunger hat sie schließlich zur Flucht aus ihrer Heimat getrieben. Weil es einfach nichts mehr zu essen gab. Fünf beschwerliche Nächte waren sie unterwegs, um ihrer Heimat zu entfliehen. Tagsüber war die Angst vor Bomben zu groß. Noor hält ihr Baby liebevoll im Arm. Yazan - auch dieser Name wurde geändert - ist dünn, viel zu dünn. Obwohl er ein Jahr alt ist, hat er - verursacht durch schweren Kalziummangel - noch keinen Zahn.

3900 Schulen zerstört, beschädigt oder zweckentfremdet

Seit Beginn des Bürgerkriegs ist Syrien langsam zerfallen. Nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation (WHO) wurden mehr als ein Drittel aller Krankenhäuser zerstört. Save the Children zufolge sind 3900 Schulen zerstört, beschädigt oder zweckentfremdet. Kein Ort für Kinder. Es ist entsetzlich, dass bereits über eine Million Mädchen und Jungen gezwungen waren, ihre Heimat zu verlassen, in die Nachbarstaaten fliehen mussten und jetzt in Flüchtlingslagern oder Aufnahmegemeinden leben. Das sind die glücklichen, diejenigen, die überlebt haben, während Tausende getötet wurden. Wo bleibt unsere Empörung darüber?

Jedes Kind, das wegen des Bürgerkriegs flüchten muss, das nicht mehr zur Schule gehen kann, das mangelernährt ist wie der kleine Yazan - all diese Kinder sind ein Dorn in unserem kollektiven Gewissen. Die internationale Gemeinschaft hat nicht nur darin versagt, diesen Konflikt friedlich zu beenden. Wir verstärken diesen Fehler auch noch durch Gleichgültigkeit, anstatt dessen schreckliche Auswirkungen zu bekämpfen. Weil wir es nicht schaffen, die Menschen in Syrien mit allem Lebensnotwendigen zu versorgen, verurteilen wir Kinder dazu zu hungern - zusätzlich zu den Grausamkeiten des Bürgerkriegs.

Familien in Syrien werden heute Zeugen der schlimmsten Gräueltaten seit Ausbruch des Konflikts vor zweieinhalb Jahren. Ganze Familien haben keinen Zugang zu der so dringend benötigten Hilfe. Sie berichten von ihrem verzweifelten Überlebenskampf, von einem Leben unter Beschuss, von ständiger Angst vor Gewalt und von einer sich stetig verschlechternden Versorgungslage, je länger die Kämpfe andauern. Für Familien, die ihre Kinder ernähren müssen, ist die Lage schier aussichtslos. Save the Children hat jetzt einen Report veröffentliche, aus dem hervorgeht, dass Kinder in Syrien durch die schlechte Versorgungslage und die ansteigenden Lebensmittelpreise einem lebensbedrohlichen Mangelernährungsrisiko ausgesetzt sind. Bis vor kurzem hat Syrien noch Lebensmittel exportiert. Inzwischen sind vier Millionen Syrer - die Hälfte davon Kinder - auf Nahrungsmittelhilfe angewiesen.

Je länger die Krise andauert, desto mehr Menschen geraten in Not. Kinder, die vor drei Jahren drei ausgewogene Mahlzeiten am Tag bekamen, schlafen hungrig, verängstigt und in dem Bewusstsein ein, von der Welt allein gelassen zu sein. In Syrien sind Mädchen und Jungen bereits an Unterernährung und mangels medizinischer Versorgung gestorben. Wo bleibt unsere Empörung darüber?

Auch wenn Lebensmittel verfügbar sind, stehen die Menschen vor einer schrecklichen Wahl: entweder zu hungern oder sich in die Schusslinie zu begeben. Es gibt viele Berichte von Syrern, die beim Schlange stehen für Einkäufe zur Zielscheibe wurden. Stellen Sie es sich vor: hungrig, verängstigt - und unter Beschuss zu sein.

Abertausende unschuldiger Kinder müssen abgrundtiefen Hass erfahren

Auf der Generalversammlung der Vereinten Nationen in dieser Woche müssen die Verantwortlichen der Welt anerkennen, welchen hohen Preis die Menschen in Syrien zahlen. Sie müssen verstehen, wie wichtig es ist, dass die Welt diese humanitäre Katastrophe wahrnimmt und die globale Plattform nutzen, um für Vereinbarungen zu sorgen, durch die alle Menschen in Syrien lebensrettende Nothilfe erhalten. Die Mächtigen der Welt müssen unsere Empörung darüber spüren, dass Abertausende unschuldiger Kinder abgrundtiefen Hass erfahren müssen.

In Syrien gibt es ein altes Sprichwort: Auch ein enger Raum kann tausend Freunde beherbergen. Die syrischen Kinder sind in einem engen, dunklen Raum eingeschlossen. Wir müssen ihre Freunde sein. Wir müssen ihnen helfen. Wir müssen diesen Bürgerkrieg beenden.

- Der Autor ist Friedensnobelpreisträger und emeritierter Erzbischof von Kapstadt.

Desmond Tutu

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