Antisemitismus in Deutschland: Eine Ohrfeige vom Zentralrat
Deutschland hat sich verändert. Wer sich heute antisemitisch äußert, beendet automatisch seine Karriere. Der Vorwurf, es sei "die schlimmste Zeit seit der Nazi-Ära" des Zentralrats der Juden in Deutschland ist daher maßlos, findet unser Kolumnist.
Als ich Kind war, im Westen, ist Antisemitismus im Alltag ziemlich normal gewesen, auch in bürgerlichen Kreisen. In der Schule hörte ich, vom Lehrer, den Satz: „Ruhig jetzt! Das hier ist keine Judenschule!“
Im Bundestag saßen zeitweise 129 ehemalige Mitglieder der NSDAP, auch der Beamtenapparat ist von Nazis durchsetzt gewesen, die redeten und handelten, wie sie es gewohnt waren. Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger war auch in der NSDAP gewesen. Einer der führenden Rassisten des alten Regimes, Hans Globke, bekam wieder ein Regierungsamt. Verurteilte antisemitische Täter wurden zwei Mal vom Bundestag amnestiert, und zwar, was mich besonders erschüttert, einstimmig. In einer Umfrage der 50er Jahre sagten 40 Prozent der Westdeutschen, die Nazizeit sei alles in allem eine bessere Zeit gewesen als die demokratische Gegenwart.
In der DDR tat man so, als habe man mit der deutschen Vergangenheit nichts zu tun. Alle waren, durch den Besitz der DDR-Staatsbürgerschaft, automatisch Antifaschisten. Israel war ein Feindbild, der böse Zionistenstaat.
Antisemitismus gehört nicht mehr zum guten Ton
In dieser Hinsicht hat sich viel verändert, zum Teil sicher aus biologischen Gründen. Unsere Kanzlerin sagt, die Sicherheit Israels sei Teil der deutschen Staatsraison, was immer das konkret bedeuten mag.
Ein Mensch von Prominenz oder sonstiger Bedeutung, der sich im Deutschland von heute antisemitisch äußert, beendet damit automatisch seine Karriere. Wenn es in Deutschland, wie jetzt wieder, zu öffentlichen antisemitischen Äußerungen oder sogar zu Gewalttaten kommt, dann sagen der Bundespräsident und jede relevante Partei dazu klare Worte, das passiert bei anderen Fällen von Kriminalität nicht. Kein Kind in diesem Land wächst auf, ohne die Verbrechen der Vergangenheit zu kennen. Dieses sehr eindeutige gesellschaftliche Klima verhindert nicht, dass es Antisemitismus gibt und dass Juden bedroht werden, in vielen – nicht in allen – Fällen von Zuwanderern aus arabischen Staaten.
Kein Gespür für das rechte Maß
Ich dresche nicht gern Phrasen, aber der Satz „Jeder Fall ist einer zu viel“ stimmt nun mal. Deshalb verstehe ich, dass der Vorsitzende des Zentralrates der Juden, Dieter Graumann, empört und besorgt ist. Ich kann allerdings nicht begreifen, dass er im Interview mit einer englischen Zeitung über das heutige Deutschland sagt: „Das ist die schlimmste Zeit seit der Nazi-Ära.“
Jeder, der ein paar Jahre in Deutschland gelebt hat, weiß, wie absurd dieser Satz ist. Er ist eine Ohrfeige für die vielen, die jahrzehntelang und nicht ohne Erfolg daran gearbeitet haben, dieses Land zu verändern. Der Satz ist maßlos. Im Zorn jedes Gespür für das rechte Maß zu verlieren – dieses Problem gibt es auch in Israel und in Palästina, und deshalb wird dort alles immer schlimmer.
Harald Martenstein
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