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Tagelang harrten Flüchtlinge auf dem Dach der Gerhart-Hauptmann-Schule aus (Archiv).
© dpa

Einigung mit Flüchtlingen in Berlin: Eine Lösung, die keine ist

Der anmaßende Anspruch des Bezirksamts, im kleinen Kreuzberg die große Bühne für ein Stück Weltpolitik zu bereiten, hat alle Beteiligten an den Rand einer Katastrophe geführt.

Niemand weiß, wozu ein verzweifelter Mensch in der Lage ist. Cemal Altun sprang am 30. August 1983 aus dem sechsten Stock des Berliner Verwaltungsgerichts in den Tod. Der junge Asylbewerber, in der Türkei von Nationalisten und Militärs verfolgt, von deutschen Behörden drangsaliert, befürchtete, abgeschoben zu werden. Altuns Anwalt Wolfgang Wieland, später Justizsenator in Berlin und Bundestagsabgeordneter der Grünen, nennt das noch heute ein Trauma.

Eine so dramatische Situation rechtfertigt jedes Bemühen um eine Deeskalation

In der Ohlauer Straße standen seit Tagen Flüchtlinge auf dem Dach einer besetzten Schule und drohten, sich herunterzustürzen oder mit Benzin zu überschütten und anzuzünden, falls ihre Forderung nach einem Bleiberecht nicht erfüllt werden würde oder die Polizei das Gebäude stürmt. Eine so dramatische Situation rechtfertigt jedes Bemühen um eine Deeskalation, selbst um den Preis der Widersprüchlichkeit und der Lächerlichkeit – sogar auch dann, wenn, wie hier in unfassbarer Fortsetzung immer wieder geschehen, genau diese Situation durch eigenes Handeln oder auch fahrlässiges, verantwortungsflüchtiges Unterlassen selbst verursacht wurde. Aber die am Mittwochabend bekannt gegebene vorläufige „Einigung“ mit den Flüchtlingen, die einer Räumung vorgezogen wurde, führt einmal im Kreis durchs Treppenhaus genau dorthin zurück, wo die Dramatik am größten ist: aufs Dach.

Feilschen übers Recht

Offenbar kann die Politik nur in Kompromissen denken, wie sie in Koalitionsverhandlungen üblich, aber fürs harte Leben, dem der Tod schon sehr nahe gekommen ist, völlig untauglich sind. Die Flüchtlinge ziehen sich in den Seitenflügel zurück – aber behalten den Zugang nach oben, von wo sie sich eben noch stürzen wollten? Das ist nicht die Lösung eines Problems, sondern dessen Verschärfung. Die Flüchtlinge beharren auf ihrer Forderung, behalten ihr Drohpotenzial und bekommen den Eindruck: Da geht noch was. Doch eine exklusiv-wohlwollende Behandlung von Asylanträgen der Besetzer käme einer Belohnung ausgerechnet derjenigen gleich, die den Staat auf all seinen Ebenen am beharrlichsten und penetrantesten, bis hin zur Erpressung mit dem eigenen Leben, reizten und erschöpften. Unmöglich, dem nachzugeben, ohne fatale Folgen herauszufordern. Unmöglich das ganze Verfahren: Mit welchem Recht feilscht da eigentlich wer mit wem – übers Recht?

Flüchtlingen und Politikern bleibt eine Hoffnung

Was Flüchtlingen und Bezirkspolitik bleibt, ist auch das, was sie eint – die winzige Hoffnung im größtdenkbaren Konjunktiv: dass dann, wenn die Ohlauer Straße nicht mehr im grellen Licht der Scheinwerfer steht, in absoluter Verschwiegenheit, ohne Druck und ohne Tamtam, auf einer höheren Ebene das bestehende Recht vielleicht nicht gebeugt, aber doch ein wenig gebogen wird. Am besten also gar nicht erst daran denken.

Die Verantwortung reicht bis nach Brüssel und darüber hinaus

Der anmaßende Anspruch des Bezirksamts, im kleinen Kreuzberg die große Bühne für ein Stück Weltpolitik zu bereiten, hat alle Beteiligten an den Rand einer Katastrophe geführt. Die Verantwortung dafür aber beginnt und endet nicht hier. Sie reicht bis nach Brüssel und darüber hinaus, 50 Millionen Menschen sind weltweit auf der Flucht. Sie führt zurück zu Aktivisten, die sich selbst Unterstützer nennen, aber die Flüchtlinge in falsche Hoffnungen treiben. Der Bundesinnenminister, ganz ungerührt, lässt derweil geschehen, was auch ihn etwas angeht, und der Innensenator sucht seinen Weg zwischen dem ganz großen Einsatz und einem „Geht mich nichts an“. Noch einmal darf es nicht soweit kommen.

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