Abtreibungsrecht: Ein Paragraf erzählt, was Frauen wert sind
Emanzipiert? Die Reform des Paragrafen 219a zeigt, wie steil das Machtgefälle zwischen den Geschlechtern noch immer ist. Ein Kommentar.
Der Kompromiss gehört zu den demokratischen Grundtugenden. Einen weitaus schlechteren Ruf hat der Kompromiss auf Kosten Dritter. So einer ist der über den Paragrafen 219a, den die Groko letzte Woche durchs Parlament geschickt hat. In Zukunft können Frauen, die eine Schwangerschaft abbrechen wollen, endlich auf Praxen-Websites lesen, wo dies möglich ist. Doch kein Wort mehr. Was der Eingriff kostet, welche Methoden angewandt werden: nichts. Um das zu erfahren, werden sie auf Surf-Tortur geschickt. Und kaum dort ankommen, wohin sie wollen: bei klaren und aktuellen Informationen. Die geplante zentrale Liste, die das leisten soll, wird dem, was auf konkrete ärztliche Websites gehörte, immer einen Schritt hinterher sein. Mindestens.
Die Kriminelle, die arme Verzweifelte - nur die selbstbestimmte Schwangere gibt es nicht
Das Ganze erinnert an die Praxis „ad usum delphini“, „zum Gebrauch des Thronfolgers“. Für dessen Unterricht entschärften die Hauslehrer der künftigen Könige Frankreichs seit dem 17. Jahrhunderts die Texte so, dass man sie den hohen Kindern zumuten konnte. Vor allem Sex wurde nicht nur aus lateinischen Klassikern getilgt, sondern sogar aus der Bibel.
So wird jetzt auch erneut der umkämpfte Paragraf zugerichtet, wie Kinder behandelt er Frauen: Durch einen Spalt dürfen sie schauen, aber um Himmels willen nicht weiter. Auf eine geradezu atemberaubende Weise spiegelt sich die alte Geschlechterhierarchie noch immer in der Abtreibungsgesetzgebung der Bundesrepublik, die seit 1949 daran gearbeitet hat, den revolutionären Satz aus dem Grundgesetz auch in praktisches Recht zu gießen: „Männer und Frauen sind gleichberechtigt.“
Die Forscherinnen Daphne Hahn und Cornelia Helfferich, die in einem von Hahn mitherausgegebenen Sammelband den Blick auf die abtreibende Frau in Deutschland durch diese Jahrzehnte hindurch analysierten, identifizierten das Bild der kriminellen Täterin, das bis in die 1970er Jahre galt, danach das der Verzweifelten und psychopathologisch Belasteten, die sozialen Zwängen unterlag. Den abschätzigen bis entmündigenden Blick stellt Hahn auch für die DDR fest, die Abtreibung 1972 zwar freigab, aber weniger aus Einsicht denn aus Angst, der Westen könne sogar hier schneller sein. Eine unbegründete Angst, wie sich danach zeigte.
Es geht um die Kontrolle der Frauen, nicht um Lebensschutz
Erst seit den 1990ern im wiedervereinigten Deutschland, so Helfferich, werde der Abbruch, man könnte sagen nüchterner, als biografischer Prozess gesehen. Bis auf einen entscheidenden Punkt: Ein Tabu, wie oft behauptet, sei Abtreibung nicht mehr, schreibt Hahn. „Die Selbstbestimung über einen Schwangerschaftsabbruch und die freie Entscheidung von Frau“ aber, in Wissenschaft wie öffentlicher Debatte, weiter kaum Thema.
Die Kontrolle über Frauen, ihr stillschweigendes Ineinssetzen – vor ein paar Jahrzehnten wurde das auch offener formuliert – mit unmündigen Kindern oder moralisch Haltlosen, die vor sich selbst geschützt werden müssen: Das ist der eigentliche Punkt, nicht der ominöse „Schutz des ungeborenen Lebens“, der jetzt sogar zur Verteidigung des 219a bemüht wurde. Der hatte diesen Zweck schon nicht, als er 1933 entstand. Die härtesten Abtreibungsgesetze der Welt, in Südamerika wie Europa, zeigen klar genug, dass Leben das letzte ist, was sie interessiert. Sie nehmen sogar den Tod einer zum Gebären gezwungenen Frau in Kauf und damit auch die Waisen, die sie hinterlässt.
Ein Land, das dieses Machtgefälle der Geschlechter im Jahre 2019 noch zementiert, muss sich über dessen andere viel beklagte Auswirkungen nicht wundern: die Gehaltslücke zwischen Männern und Frauen, das Weniger weibliche Lebenschancen und die Tatsache, dass über Vergewaltigung am lautesten gesprochen wird, wenn man die Scheinwerfer auf nichtdeutsche Täter richten kann. Dass hierzulande jeden Tag ein Mann versucht, seine Frau umzubringen, und dass das jeden dritten Tag gelingt, fesselte kürzlich eine Schrecksekunde lang – und wurde wieder vergessen.
Das Privileg, ein Mann zu sein
Dass Verhütungsmittel für Männer angeblich zu viele Nebenwirkungen haben, die sicheren Nebenwirkungen der Pille deren Markterfolg aber nichts anhaben konnten. Dass Frauen sich durch männliche Anrede mitgemeint zu fühlen haben, aber Männer aufschreien, wenn ihnen das mit dem Femininum zugemutet wird. Und und und.
Der US-Autor P. Carl, der mit 50 von der Frau zum Mann wurde, sagt, je länger er als Mann lebe, desto wütender mache ihn zu sehen, wie viele Privilegien das bedeutet, in beinahe jedem Moment des Alltags. Was, wenn diese Erfahrung Allgemeingut wäre?
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