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Häufiger allein: In Ostdeutschland fehlt die Vereinsstruktur für gemeinschaftliches Engagement
© dpa

Gesellschaftlicher Zusammenhalt in Ost und West: Ego-Ossis und Kuschel-Wessis

Eine neue Studie untersucht den gesellschaftlichen Zusammenhalt in Deutschland. Vor allem der Osten der Republik - einst besonders stolz auf seine Solidarität - zerfällt in eine Region der Eigenbrötler. Das kommt nicht von ungefähr.

Da reibt man sich doch verdutzt die Augen: Der gesellschaftliche Zusammenhalt in Deutschland ist gegenüber 1990 zwar insgesamt besser geworden, aber in den östlichen Bundesländern ist es um ihn weitaus schlechter bestellt als in den westlichen. Und der Unterschied wächst. Zu diesem Ergebnis kommt jedenfalls eine am Montag vorgestellte Studie der Bertelsmann-Stiftung.

Hatten wir nicht noch in Erinnerung, dass man im Osten besonders stolz war auf das enge, vertraute Verhältnis zueinander? Auf Nachbarschaftshilfe und Solidarität? Auf das kuschelige Zusammenrücken, mit dem man sich in der DDR angesichts Bevormundung und Repression gegen die Vereinnahmung durch den Staat wappnete? Es schien, als hätten die Ostdeutschen das als eine Art Humankapital in die deutsche Vereinigung eingebracht. Bei der wohlfeilen Aufrechnung von Soll und Haben beim Beitritt zur Bundesrepublik suggerierten solche Befunde, die Ostdeutschen hätten das Zeug, mit solcherart Zusammenhalt der vermeintlich von Ellbogenmentalität und Egoismen geprägten Wohlstandsgesellschaft etwas entgegenzusetzen. Und nun das!

Im Osten gilt ein historisches Misstrauen gegen "gesellschaftliches" Engagement

Aber überrascht das Ergebnis wirklich? Verweise auf alte Verbundenheiten aus DDR-Zeiten zählen heute nicht mehr. Ein Vierteljahrhundert ist darüber hinweggegangen. Überdies war jenes Spezifikum schon damals an die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen gebunden. Es bedeutete lediglich das Zusammenrücken in einem kleinen, privaten Kreis derer, denen man wirklich vertraute; an der Außengrenze dieses Kreises begann das Misstrauen und die Verweigerung. Dieser von manchen bis heute als Geborgenheit empfundene Rückzug in die Privatsphäre, auch in die Nische aber war das Gegenteil dessen, was Gemeinwesen und Gemeinwohl tatsächlich bedeuten und verlangen. So wirkt bis heute im Osten das Misstrauen gegenüber „gesellschaftlichem“ Engagement nach, das gemeinhin immer noch mit diskreditiertem „staatlichen“ oder „politischen“ Engagement verwechselt wird – obwohl zivilgesellschaftliches Mitwirken oft geradezu das Gegenteil dessen ist.

Wo soziale Lücken entstehen, finden Radikale und Rattenfänger ihre Nischen

Hinzu kommt: Es gab grundstürzende Umbrüche in den jungen Bundesländern, in den ganz alltäglichen Lebenswelten der Menschen, durch Abwanderung in den ländlichen Regionen und Durchmischung in den Städten. Das erschwerte es, Strukturen eines vitalen Gemeinwesens herauszubilden. Allein die Zahl der Vereine in Ost und West macht den Unterschied deutlich. Dass Identifikation mit dem Gemeinwesen und Bereitschaft zur Solidarität auch mit dem Geldbeutel zu tun haben, liegt auf der Hand – und erklärt ebenfalls, warum die jungen Bundesländer schlecht abschneiden: Wo wenig ist, ist die Bereitschaft zum Spenden oder anderer finanzieller Beteiligung zugunsten der Allgemeinheit schwach ausgeprägt. Und wenn in den Ländern und Regionen, wo viele Migranten leben, ein besserer Zusammenhalt der Menschen registriert wird, verwundert es nicht, dass der Osten mit seinem geringen Ausländeranteil am Ende rangiert.

Bei aller gebotenen Skepsis gegenüber dieser Studie, die mit Sekundärdaten und zum Teil schwammigen Begrifflichkeiten arbeitet, sollte man die empirischen Befunde nicht unterschätzen. Wo Gemeinsinn und Zusammenhalt schwinden, entstehen Räume für Radikale, Kriminelle und politische Rattenfänger. Auch das wäre der Preis, würde man die Angleichung der Lebensverhältnisse zwischen Ost und West als politisches Ziel aus den Augen verlieren.

Matthias Schlegel

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