Berlin - Porträt einer unfertigen Stadt: Die Revolution ist eingedöst
„Keine Macht für niemand“: Wie die Revolution in West-Berlin langsam eindöste. Schriftsteller Peter Schneider schreibt in seinem Buch "An der Schönheit kann’s nicht liegen … Berlin – Porträt einer ewig unfertigen Stadt", wie er die Zeit erlebt hat. Ein Essay
Die Protestbewegung veränderte die Alltagskultur und das Lebensgefühl in der Stadt von Grund auf. In England und in den USA war die Revolte der Haare, der rauen Stimmen und der Secondhand-Klamotten dem politischen Ausbruch gegen den Vietnamkrieg vorausgegangen. Das alles wurde in der 68er-Revolte – die in Berlin eigentlich eine 67er-Revolte war – nachgeholt. Tausende entdeckten in dem kollektiven Gebrodel jener Jahre ihre Lust auf ein anderes Leben. Nie habe ich seither in so kurzer Zeit von so vielen so viel über ihre persönlichen Wünsche und Ängste erfahren. Von Schwulen hörte man zum ersten Mal, dass sie schwul waren, von Frauen, dass nicht der Kapitalismus, sondern ihre Männer sie an der Emanzipation hinderten. Stotterer setzten ihren Anspruch durch, vor einem tausendköpfigen Publikum zu reden, ein Star der Kommune I durfte seine Orgasmusschwierigkeiten zum Problem der ganzen Bewegung erklären.
Der viel beschworene Antiamerikanismus war das Produkt einer Hassliebe
Ein falscher Mythos behauptet, dass die 68er antiamerikanisch waren. Kein Zweifel, der Ausgangspunkt der Bewegung war der Protest gegen den Vietnamkrieg. Aber zumindest in den frühen Flugblättern und Reden wurde sorgfältig zwischen der US-Regierung und dem „amerikanischen Volk“ unterschieden. Tatsächlich war ja der Protest gegen den Vietnamkrieg in den USA entstanden und breitete sich von dort nach Westeuropa aus. Auch der Schlüsselbegriff des „zivilen Ungehorsams“ und die entsprechenden Protestformen – Teach-in, Go-in, Sit-in – kamen samt und sonders aus Amerika. Das galt auch für das neue Outfit, das die 68er von den Bluejeans und den Khakihosen bis zum T-Shirt, den Parkas und den Turnschuhen im PX-Laden in unmittelbarer Nähe der FU kauften. Unter den Berliner Clubs war das International, in dem vor allem GIs verkehrten, der Geheimtipp. Niemand von uns hörte deutsche Schlagerstars, sondern Bob Dylan, Joan Baez und die Rolling Stones.
Die höchste Einschaltquote erreichte der Sender AFN (American Forces Network) gleich hinter den GIs bei den 68ern. Was Letztere freilich nicht hinderte, amerikanische Flaggen zu verbrennen und im Rausch des Protestes auch widerwärtige antiamerikanische Parolen wie „USA-SA-SS“ zu deklamieren. Aber der viel beschworene Antiamerikanismus der 68er war schlimmstenfalls das Produkt einer Hassliebe. Anders als in der damaligen DDR, wo die Verdammung des US-Imperialismus bereits in den Kindergärten eingeübt wurde, hatte er in Westberlin kurze Beine. Wahrscheinlich ist die rebellische Jugend der sechziger Jahre der am meisten amerikanisierte Teil der Berliner Bevölkerung gewesen.
Aber der Vietnamprotest erzeugte in der geteilten Stadt einen zweiten Riss – einen Riss innerhalb von Westberlin. Die Halbstadt teilte sich in zwei Lager: in eine Minderheit von rebellierenden jungen Leuten und eine konservative Mehrheit, deren Sprachrohr die Springerpresse war. Vor allem die älteren Westberliner waren nach dem Motto „right or wrong, my city“ taub für den Protest der Jugend gegen den Vietnamkrieg. Die Verbrennung amerikanischer Flaggen und Slogans wie „Hey, hey, LBJ, how many kids did you kill today?“ (beim Besuch des amerikanischen Präsidenten Lyndon B. Johnson) erschien ihnen als ein Sakrileg. Die Berliner Luftbrücke und der Bau der Mauer waren ihnen noch in frischer Erinnerung. Waren die „Krawallbrüder“ und „Maojünger“ auf den Straßen nicht dabei, die wichtigste Schutzmacht der eingeschlossenen Halbstadt zu verprellen? Die Rebellen wiederum waren zu berauscht von ihrer Wut und ihren Erfolgen, um auf die andere Seite zuzugehen.
Wer an der Mauer rührte, war Revanchist
1980 hatte ich ein halbes Jahr auf einer Vortragstournee in Lateinamerika verbracht. Als ich wiederkam, schaute ich mir die inzwischen perfektionierte Mauer mit einem fremden Blick an. Ja, es ist das bekannteste und absurdeste Bauwerk der Welt, dachte ich. Aber gleichzeitig wissen wir so gut wie nichts darüber, was die Mauer mit den Menschen macht, die in ihrem Schatten leben. Als ich mit meinen Recherchen begann, stieß ich auf Skepsis bei fast allen Freunden, denen ich von meinem Projekt erzählte. War ich nicht dabei, das Territorium des antikommunistischen Pressezaren Axel Springer zu betreten? Ein nie überprüfter Glaubenssatz der Linken besagte ja, die Teilung sei nun einmal die Buße, die die Deutschen für die Verbrechen des Dritten Reiches abzuleisten hatten. Wobei die eingeschlossenen Ostdeutschen, die ja in Wahrheit als Einzige „büßten“, nie gefragt wurden, ob sie mit dieser Schuldabrechnung einverstanden waren. Wer an die Mauer, an dieses vermeintliche Ergebnis des Hitlerkrieges rührte, war unter Westberliner Linken als Kalter Krieger, ja als Revisionist und Revanchist verdächtig.
Es waren Revolten in den Eingeweiden
Es bedurfte dann weder besonderen Talents noch prophetischer Fähigkeiten, die längst entstandene „Mauer im Kopf“ zu benennen, die ich in meinem Buch „Der Mauerspringer“ beschrieben habe. Es brauchte nichts als Neugier. Aber Neugier war in den hysterischen Zeiten des Kalten Krieges und des Lagerdenkens eine knappe Ressource. Ein Rezensent der „Welt“ merkte damals an: Es sei erstaunlich, dass ausgerechnet ein ausgewiesener Linker dieses Buch geschrieben habe. Das Buch sei entschieden klüger als sein Autor.
In der Mitte der achtziger Jahre beschlich mich das Gefühl, dass die Geschichte aus Westberlin ausgewandert war und sich nur noch in kaum gelesenen Schlagzeilen am Zeitungskiosk bemerkbar machte. Unseren politischen Leidenschaften war die Luft ausgegangen, die Entspannungspolitik machte leise, zähe Fortschritte, die verfeindeten Lager in Westberlin näherten sich sachte an. Sicher, in einigen Stadtvierteln brodelte es immer noch. In Kreuzberg besetzten junge Leute leer stehende Häuser, setzten sie notdürftig instand und machten ihren Anspruch geltend, dort nach ihrem Gusto umsonst zu wohnen. Musikgruppen mit seltsamen Namen wie Einstürzende Neubauten oder Tödliche Doris und neue Clubs mit Namen wie Risiko, Sound, Dschungel, SO36 machten von sich reden. Eine wilde Kunstszene tobte sich in den Westberliner Nischen aus und entwarf Bilder eines ebenso exaltierten wie suizidalen Lebensgefühls. Aber all diesen mal genialischen, mal bloß sonderbaren Äußerungen eines „anderen Lebens“ war eine Neigung zur Selbstfeier und zur Abschottung gegen die Außenwelt gemeinsam. Es waren Revolten in den Eingeweiden; der Impuls zur Veränderung der Gesellschaft war verraucht – und wurde angesichts des Scheiterns der Revolte auch verhöhnt. Irgendwie und ohne es zu merken, war Westberlin zur Welthauptstadt der Minoritäten geworden: der Lebenskünstler und der Arbeitslosen, der Schwulen und der Lesben, der politischen Sekten und der Esoteriker, der Türken, Polen, Italiener und Russen – und irgendwo zwischen diesen Gruppen fanden sich als weitere Minoritäten auch die drei Alliierten und die Berliner Stadtregierung.
„Keine Macht für niemand“ hatte die legendäre Musikgruppe Ton Steine Scherben einst gesungen. In den gespenstisch ruhigen achtziger Jahren schien diese Parole den Zustand der Halbstadt zu beschreiben. Westberlin döste vor sich hin und war ein komfortables, durch üppige Subventionen und die Mauer geschütztes Biotop geworden. Die Regierungspartei der DDR hatte gar nicht so unrecht mit ihrem steifen Namen für die westliche Halbstadt: „selbstständige politische Einheit Westberlin“. Seit 1984 wurde Westberlin von einem Duo aus der CDU regiert: Eberhard Diepgen und Klaus-Rüdiger Landowsky. Die Aktivisten der Studentenbewegung kannten die beiden als Mitglieder der schlagenden Verbindung Saravia und hatten sie in den Jahren der Revolte aus ihren Stellungen in der Studentenvertretung der Freien Universität vertrieben. In den achtziger Jahren waren die alten Feindschaften abgenutzt. Irgendwann fanden sich die ehemaligen Kontrahenten alle in denselben Edelkneipen wieder – die Regierenden aus der schlagenden Verbindung und die einstigen Rebellen, die Baulöwen und die Theaterregisseure und Schauspieler, die Subventionsschwindler und die Modezaren – und auch der Autor dieser Zeilen. Wir saßen, wenn auch nie am selben Tisch, bei Fofi in der Fasanenstraße, in der Paris Bar in der Kantstraße und im Ciao am Kurfürstendamm. Und manchmal, wenn sie mich erkannten, winkten mir die alten Feinde aus der schlagenden Verbindung huldvoll zu – man kannte sich, und es war klar, wer gewonnen hatte. Eigentlich, dachte ich nach drei Gläsern Wein, könnte dieses Idyll noch tausend Jahre fortbestehen.
Diepgen und Landowsky bei der schlagenden Verbindung
Kurz nach dem Mauerfall traf ich Rüdiger Landowsky bei einem Empfang eines großen Wochenmagazins am Brandenburger Tor wieder. Wir beide hatten Gläser in der Hand, ich zog ihn in eine Nische. Schon damals, in den unvordenklichen Zeiten der sechziger Jahre, sagte ich, hätte ich ihm gern eine Frage gestellt. Wie war es möglich, dass sie beide, Rüdiger Landowsky und Eberhard Diepgen, auch nicht die Andeutung eines Schmisses im Gesicht hatten, obwohl sie doch Mitglieder einer schlagenden Verbindung waren. Landowsky lachte. Die Burschenschaft Saravia habe entschieden, Redetalente vom Komment zu befreien. – Hätten wir das damals nur gewusst, erwiderte ich. Was für ein Fass hätten wir da aufgemacht!
Im Lauf meiner Westberliner Jahre hatte ich immer wieder Kollegen in Ostberlin getroffen, die im Herzen Kommunisten geblieben waren. Und ich hatte mich gefragt, was in aller Welt sie dazu bestimmte, einem Staat treu zu bleiben, der so viele ihrer Kollegen vertrieben und sie selbst – die „kritischen Dableiber“ – mit Zensur, Berufsverbot und Gefängnis bedroht hatte. Was war die Quelle dieser merkwürdigen Loyalität gegenüber ihrem Peiniger? War es die Überzeugung, dass die DDR der bessere, der einzige antifaschistische Staat auf deutschem Boden war? Oder hatte dieser Staat die Dableiber durch die Privilegien, die er ihnen eingeräumt hatte, am Ende doch korrumpiert?
Nach dem Fall der Mauer stellte sich heraus, dass viele von ihnen das epochale Ereignis als eine geschichtliche Katastrophe, ja, als eine persönliche Kränkung erlebten. Nicht sie, sondern die Geschichte hatte sich – wie damals im Jahre 1933 – geirrt. Eher waren sie bereit, den Deutschen in der DDR ein neues sozialistisches Experiment namens „Dritter Weg“ anzuraten, als die Frage zuzulassen, ob sie sich mit ihrem Glauben an die grundsätzliche Überlegenheit des Kommunismus vielleicht geirrt hatten. Die Treue vieler DDR-Intellektueller zu dem gescheiterten Experiment bleibt ein deutsches Phänomen – außer in Russland hat es in keinem anderen Land des Ostblocks Vergleichbares gegeben. Ebenso erstaunlich bleibt, dass sich auch unter den links orientierten Schriftstellern in Westberlin und in der Bundesrepublik nur wenige fanden, die den Sturm der Freiheit in Mittel- und Osteuropa bejubelten. Sie liebten das Volk der DDR, solange es rief: „Wir sind das Volk!“ Als die Demonstranten in Leipzig den Slogan in den Ruf „Wir sind ein Volk!“ veränderten, war es mit der Sympathie vorbei. Ich fürchte, von dieser seltsamen Schockstarre angesichts der epochalen Ereignisse im November 1989 und danach hat sich die intellektuelle Klasse in Deutschland bis heute nicht erholt. Der Kabarettist Wiglaf Droste organisierte ein paar Monate nach dem 9. November 1989 – ganz ohne Witz! – auf dem Kurfürstendamm eine Demonstration für den Erhalt der Mauer. Zweitausend Westberliner liefen mit.
Der Autor ist Schriftsteller und lebt in Berlin. Der Text ist ein Auszug aus seinem neuen Buch „An der Schönheit kann’s nicht liegen … Berlin – Porträt einer ewig unfertigen Stadt“, das am 5. März 2015 erscheint (Kiepenheuer & Witsch, Köln 2015. 314 Seiten, 19,99 Euro).
Peter Schneider
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