Leitzins und Export: Die Kehrseite des Wunderlandes
Deutschland ist Exportweltmeister, deutsche Produkte im Ausland gefragt, der deutsche Ideenreichtum geschätzt. Die Senkung des Leitzinses auf das Rekordtief von 0,25 Prozent wird diese Entwicklung weiter befeuern. Die Bundesrepublik steht gut da - doch es gibt auch eine Kehrseite.
Ist die Euro-Krise doch noch ernster als vermutet? Sind wir vom Wendepunkt weiter entfernt, als die Politik uns glauben machen will? Man mag die Erklärung nicht akzeptieren, dass die Europäische Zentralbank lediglich angesichts einer niedrigen Inflationsrate wagte, den Leitzins auf das Rekordtief von 0,25 Prozent zu senken. Natürlich kann billiges Geld wie ein gewaltiges Konjunkturprogramm wirken. Schließlich werden Investitionen von Unternehmen und Ratenkäufe der Verbraucher noch einmal günstiger. Aber am Geld hat es schon bislang nicht gefehlt. Dennoch halten sich viele Firmen mit Kapazitätserweiterungen zurück. Sie bezweifeln, dass die Konjunktur sich weltweit so schnell erholt, dass Investitionen zum jetzigen Zeitpunkt sinnvoll sind.
Was wird also passieren? Die Börsianer jubeln, Geld zum Zocken ist günstig, und die Flucht in Sachwerte wird anhalten, weil konservative Geldanlagen nichts bringen. Wer eine Lebensversicherung hat, schaut dem Verfall seines Vermögens zu. Selbst wenn die Inflationsrate niedrig ist – höher als der Zinssatz auf der Bank ist sie allemal.
Für die deutsche Exportwirtschaft ist die Zinssenkung so etwas wie ein Treibsatz. Sie macht den Euro billiger, und damit werden Produkte aus dem Euro-Raum auf dem Weltmarkt preiswerter. Niemand profitiert mehr davon als die deutsche Wirtschaft – die doch, zusammen mit der deutschen Politik, gerade noch von der EU-Kommission und dem US-Finanzministerium wegen ihrer hohen Exportüberschüsse gescholten worden war.
Tatsache ist, dass der Leistungsüberschuss Deutschlands in diesem Jahr bei 200 Milliarden Euro liegen und damit zum dritten Mal der weltweit höchste Exportüberschuss überhaupt sein wird. Vereinfacht ausgedrückt: Deutschland hat ins Ausland für 200 Milliarden Euro mehr Waren ausgeführt, als es in der Welt eingekauft hat.
Die deutsche Wirtschaft und der Sprecher des Bundesfinanzministers weisen die Kritik zurück. Sie betonen, der deutsche Exporterfolg hänge nicht mit Dumpinglöhnen, sondern ausschließlich mit der hohen Nachfrage nach deutschen Produkten zusammen, die eben wegen ihrer Qualität weltweit geschätzt seien. Das ist unbestreitbar richtig.
Im gleichen Zeitraum, in dem zum Beispiel die amerikanische und die britische Industrie, um nur zwei Beispiele früher ebenfalls exportstarker Nationen zu nennen, sowohl qualitativ als auch in der Innovationsfähigkeit immer schwächer wurden, besannen sich die Unternehmen hierzulande auf ihre traditionellen Stärken. Und die sind Erfindungsreichtum, frühes Erkennen von Marktlücken und langfristigen Entwicklungstrends, gepaart mit Zuverlässigkeit und Langlebigkeit der Produkte.
Zumindest im Bereich Chemie und Metallverarbeitung geht auch der Vorwurf daneben, Deutschland habe den Vorsprung vor allem durch Lohnverzicht und damit vor allem über den Verkaufspreis gesichert. Deutsche Waren sind nicht billig, sondern ihren Preis wert. In der Industrie hat es in den letzten Jahren sogar deutliche Lohnzuwächse gegeben, die Arbeitnehmer haben also am Wirtschaftserfolg teilgenommen.
Zu den unangenehmen Wahrheiten gehört aber, dass Deutschland mit fast 20 Prozent den mit Abstand größten Niedriglohnsektor in der Europäischen Union hat – acht Millionen Arbeitnehmer. Das ist einer der Gründe für die extrem schwache Binnennachfrage, denn diese acht Millionen und ihre Familien scheiden als potenzielle Konsumenten zum Beispiel südeuropäischer Agrarprodukte aus. Das kritisieren EU und USA völlig zu Recht.
Es gibt noch einen zweiten Bereich, in dem die deutsche Politik höchst fahrlässig ist: Die Infrastruktur Deutschlands wird seit mehr als einem Jahrzehnt auf Verschleiß genutzt. Brücken, die von Lastwagen nicht mehr befahren, Schleusen, die nicht mehr benutzt werden können, marode Universitäten, Schulen und Schwimmbäder, zerbröselnde Straßen. Das ist die Kehrseite des Exportwunderlandes. Wenn die Zinssenkung der EZB von der sich gerade bildenden Koalition auch als Signal für ein großes Investitionsprogramm zur Verbesserung der Infrastruktur verstanden würde, hätte sie zumindest einen dauerhaft positiven Effekt.
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